: Zahnstocher, ein kleiner Robespierre
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Für die Alten waren die Dinge unbezweifelbar. Lukrez beschrieb ihr Wesen in seinem Lehrgedicht "De natura rerum". In der Moderne beginnen die Dinge dem Menschen zu entgleiten. Rainer Maria Rilke wollte sie in seinen Dinggedichten über die Gazelle oder die blaue Hortensie bewahren. Francis Ponge wählte "Le parti pris des choses", die "Parteinahme für die Dinge".
Für die Alten waren die Dinge unbezweifelbar. Lukrez beschrieb ihr Wesen in seinem Lehrgedicht "De natura rerum". In der Moderne beginnen die Dinge dem Menschen zu entgleiten. Rainer Maria Rilke wollte sie in seinen Dinggedichten über die Gazelle oder die blaue Hortensie bewahren. Francis Ponge wählte "Le parti pris des choses", die "Parteinahme für die Dinge". Anders als Rilke nahm er in seine Poesie auch Gegenstände der Zivilisation auf und erlöste sie aus ihrer Funktionalität. Ponge schrieb über Kieselsteine, Mollusken und Aprikosen, aber auch über die Seife, den Waschkessel und die Zigarette. Er wollte von den Dingen lernen, statt über sie zu verfügen.
Der jüngste Nachfahre des Lukrez ist der junge slowenische Autor Ales Steger, Jahrgang 1973. "Buch der Dinge" ist sein vierter Gedichtband, sein zweiter in deutscher Übersetzung. Als Motto wählt Steger einen Satz aus dem großen Wörterbuch der slowenischen Sprache: "Nicht für jedes Ding gibt es ein Wort." Das erstaunt, wenn man erfährt, daß Ding und Rede im Slowenischen eine gemeinsame Wurzel haben. Das Spiel mit Identität und Nicht-identität gibt Stegers Poetik ihren produktiven Ausgangspunkt. Wenn Steger von Dingen redet oder sie reden läßt, sind sie auf ihre Art präsent, nehmen sie Kontakt mit dem Menschen auf. So verlockt das Brot den Menschen, sein Herr zu werden, und macht sich masochistisch zum "Verbrennungsofen seiner Schuld": "Ja, ja, es liebt dich, deshalb nimmt es jetzt dein Messer in sich auf. / Es weiß, daß alle seine Wunden sich in deiner Hand verkrümeln."
Groteske Heiterkeit oder existentieller Ernst? Steger liebt die surrealen Zwischenwelten. Mal erzeugt er Magie, mal merkt man den Taschenspielertrick. Er kann nicht verbergen, daß das Eigenleben der Dinge Fiktion ist, Projektion des Subjekts. Stets spricht ein menschlich gedachtes Ich mit, steht Ding-Ich gegen Betrachter-Ich. So in der Groteske um das Ei. Wer ein Ei aufschlägt, begeht unwissentlich einen Mord: "Als du's am Pfannenrand erschlägst, bemerkst du nicht, / Daß dem Ei im Tod ein Auge wächst." Die Dinge scheinen uns anzuklagen, doch Anklage schlägt in Komik um. In soviel Komik, daß wir nachdenklich werden.
Während Ponge Partei für die Dinge nimmt, geht Steger eher auf ihre alte Unterlegenheit zurück. Der Händetrockner "hat keinen Namen, der spricht, wenn du nicht in seinem Namen sprichst". Die Fußmatte antwortet auf unsere Tritte mit unterwürfiger Liebe. Die Seife macht uns immerhin darauf aufmerksam, daß in dieser Welt niemand saubere Hände behält. Daher gibt sich der Phänomenologe als Historiker, der die Dinge der Geschichte dem menschlichen Mißbrauch unterworfen sieht. So ist der Stuhl "Träger der analen Geschichte", und der Dichter erinnert an den römischen Zenturiosrock, an die Hose des SS-Obersturmführers, an den Minirock aus Viskose. Freilich will sich über solchen Reihungen kein Aha-Erlebnis einstellen. Noch weniger beim Thema "Wurst": "Zweihunderttausend Frankfurter Würste / Demonstrierten für Arbeiterrechte." Das scheitert nicht an mangelnder political correctness, sondern an der Banalität der Redensart vom Menschen als Würstchen.
Stegers bessere Texte gelangen über Faktenreihung und bemühte Deskription hinaus. Sie faszinieren durch Witz und Intellekt, etwa durch die blitzhafte Abkürzung zwischen heterogenen Dingen. Was ist der Zahnstocher? "Ein kleiner Robespierre im Maul des Polyphem." In einigen anderen Texten geschieht, was der reinen Poesie vorbehalten ist: Epiphanie, profane Erleuchtung. Ein Geheimnis schimmert auf, wenn die Dinge als abwesend gedacht werden. So in dem wunderschönen Gedicht von der Büroklammer. Nicht die Klammer wird da beschrieben, sondern ihr rostiger Abdruck auf Papier. Wenn der Betrachter mit dem Finger darüber fährt, öffnet sich "ein Raum im Raum im Raum". Das hätte Gertrude Stein gefallen.
Ales Steger: "Buch der Dinge". Gedichte. Aus dem Slowenischen übersetzt von Urska P. Cerne und Matthias Göritz. Mit einem Nachwort von Matthias Göritz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 92 S., geb., 17,80 [Euro].