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Wolfgang Herrndorf: Sand : Wo Schmuggler, Hippies, Künstler und Agenten auftanken

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Bild: Verlag

Im vergangenen Jahr begeisterte er mit der Ausreißergeschichte „Tschick“. Jetzt legt Wolfgang Herrndorf einen literarischen Thriller vor: den grandiosen Wüstenroman „Sand“.

          5 Min.

          Wer Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ (2010) gelesen hatte, ein Buch von franker Lustigkeit und herzerwärmender Solidarität mit der Jugend, der konnte sich den Autor nur als einen glücklichen Menschen vorstellen. So ist es schockierend, aus seinem Blog zu erfahren, dass er schon länger mit dem Tod um die Wette schreibt. Und so erregt schon der Umschlag seines neuen Romans die Assoziationen, die sich seit biblischen Zeiten angesammelt haben. Sand, der unaufhörlich durch das Stundenglas rinnt, den wir uns gegenseitig in die Augen streuen, auf den alles Menschenwesen gebaut ist, der die Spuren verweht und bald vielleicht das Gesicht der Menschheit.

          Die Befürchtung aber, es könnte sich bei dem Roman um ein deprimierendes Exemplar der Gattung tapferer Krankheitsbewältigungsbericht handeln, ist unbegründet, wie sich rasch herausstellt. Nach wie vor ist hier ein gewitzter und universal belesener Artist am Werk, der auf seinem Hochseil mit Gewalt, Tod, Verderben und Vergessen jongliert und die Nichtigkeit der menschlichen Existenz als großes Kunststück aufführt.

          Ein verfremdetes Marokko als Schauplatz

          Zeit und Ort werden klassisch angelegt. Die Handlung spielt im September 1972. Bei den Olympischen Spielen in München nehmen die Terroristen des „Schwarzen September“ Mitglieder der israelischen Delegation als Geiseln. Bei der dilettantischen Befreiungsaktion kommen siebzehn Menschen ums Leben, weitere Tote folgten bei Racheaktionen des israelischen Geheimdiensts und in der Verschärfung des Palästina-Konflikts und den Auswirkungen in der arabischen Welt. Fortan wächst die Angst vor der Waffentechnologie in arabischen Händen.

          Schauplatz ist aber ein Land im Maghreb, halbzivilisiert, schmutzig, chaotisch, gewalttätig und korrupt. Der Erzähler stellt es dem Leser mit geographischer Akkuratesse vor. Eine Stadt am Meer, das Leere Viertel, das Salzviertel der Suq, die Touristenzone der Altstadt, das Sheraton Hotel mit seinen Bungalows, die Slums im Gürtel. Dahinter die Berge, dann die Wüste mit einer Piste, die zu einer Oase führt. Trotz verfremdeter Namen erkennt der Leser unschwer das Königreich Marokko mit seinen Residuen aus der französischen Kolonialzeit und der „Interzone“, das Tanger der berauschten Künstler und Literaten, der Partys bei amerikanischen Lebedamen, der schwulen Subkultur, die sich arabische Lustknaben in Adidas-Hosen hält, der bekifften Hippies und der Agenten, Schmuggler und Geschäftemacher aus aller Herren Länder.

          Auf dem Zentralkommissariat geht es zu wie im Taubenschlag

          Es beginnt damit, dass vier Mitglieder einer internationalen Hippiekommune in der Oase ermordet werden, mehr Tote folgen. Als Täter wird ein Junge mit dem hübschen Namen Amadou Amadou verhaftet und von zwei lustlosen Kommissaren verhört. Den einen, Polidario, beschäftigt mehr, dass er pünktlich um vier Uhr nachmittags unter Kopfschmerzen zu leiden beginnt, weshalb er schon vorsorglich Aspirin einwirft. Der andere, Canisades, ist in der Halbwelt der Künstler mit ihrem zynischem Gequatsche über „Atombomben in den Händen von Kameltreibern“ wohlbekannt. Seinem Kollegen, dem arabischstämmigen pieds-noir mit französischen Pass, geht das alles auf die Nerven. „Da eine Bombe rein.“

          Im Fall des Hippiemords geht es zum ersten Mal um einen Koffer, nämlich um einen voller Geld, leider in „Goethe“, nämlich in der Währung der DDR. Es scheint aber noch eine andere Bewandtnis damit zu haben, und das sorgt allein schon für reichlich Verkehr von der Stadt in die Wüste und zurück. Überhaupt wird viel Auto gefahren. Auch auf dem Zentralkommissariat geht es auch zu wie im Taubenschlag. Obwohl der Täter eindeutig überführt zu sein scheint, ist man höheren Orts nicht an seiner Verurteilung interessiert. Im Hafen landet derweil ein Schiff, dem die attraktive Amerikanerin Helen Giese entsteigt, die den Vertrieb von Kosmetika sondieren soll. Als ein Araberjunge ihr den Musterkoffer abnehmen oder entreißen will, entleert sich der Inhalt ins Meer.

          Im nordafrikanischen Babel

          Dann gibt es neben einem gewissen Cetrois, der offenbar der Kommune Versicherungen andrehen wollte, einen mysteriösen Lundgren, der sich in der Oase einfindet, wo er sich als Herrlichkoffer ausgibt und folglich eine Kofferübergabe anstrebt, bei der jedoch irgendetwas schiefgeht. Vor allem die Kommunikation, alle scheinen Zwecke zu verfolgen, reden aber aneinander vorbei. Überhaupt gibt es in diesem nordafrikanischen Babel ziemlich viele Missverständnisse, nicht nur wegen der Sprachenvielfalt. Die Tankstelle an der Piste, wo sich die Fäden der Handlung verknüpfen, macht jedenfalls gute Geschäfte, da kommen alle einmal vorbei.

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