Sowjetischer Klassiker : Wie Menschen und wie Tiere sterben
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Eine Sprache der Wahrhaftigkeit
Man kann die weitgespannte Handlung des Romans kaum andeuten, so viele Schicksale entfalten sich vor unseren Augen. Und doch ist „Stalingrad“ kein Kriegsroman. Ausgehend von der Familie Schaposchnikow und ihrem Umfeld, weitet sich das Panorama zu einem kollektiven Porträt der sowjetischen Gesellschaft – Offiziere und Infanteristen, Lokalpolitiker und Kolchosbauern, Stahlarbeiter und Betreuerinnen des Kinderheims, alle unter dem Zeichen drohender Vernichtung zwischen Sommer 1942 und der endgültigen militärischen Niederlage der deutschen Wehrmacht im Februar 1943. Ein kurzer Wortwechsel, ein vielsagendes Detail, und die Figuren stehen plastisch vor uns. Und auf alle schaut der Autor mit demselben teilnehmenden Blick. Auch die deutschen Militärs sind keine Klischees; selbst eine Szene des morgens aufwachenden Hitler kann Grossman einfügen, ohne seinen Stil der Wahrhaftigkeit zu beschädigen. Hier wird nicht breit geschildert und pastos ausgemalt, sondern so beharrlich in die Tiefe gegraben, wie es die Arbeiter in den bedrohten Kohleminen tun.
Eine der Hauptfiguren, der Kernphysiker Viktor Strum, versäumt es, seine Mutter rechtzeitig vor Kriegsbeginn zu sich zu holen. Danach ist es zu spät. Ihr letzter Brief an den Sohn wandert durch viele Hände, bis er Strum erreicht. Da ist die Mutter schon ins Ghetto deportiert und kurz darauf, zusammen mit mehr als zwanzigtausend ukrainischen Juden, ermordet worden. Grossman selbst (der mit „Die Hölle von Treblinka“ einen der maßgeblichen Augenzeugenberichte über ein deutsches Vernichtungslager hinterlassen hat) machte diese Reise, sobald die Deutschen vor Stalingrad kapituliert hatten, und warf sich den Tod seiner Mutter bis zum Ende seines Lebens vor. In „Stalingrad“ errichtet er ihr ein Mahnmal, das einem die Sprache verschlägt.
Die Kunst der Einfühlung
Anders als in „Leben und Schicksal“, das Viktor Strum und viele andere Figuren wieder aufnimmt und die völlige Desillusionierung des Autors über Stalins Totalitarismus verrät, erklingt in „Stalingrad“ noch das patriotische Pathos des Sowjetstaats, mit Hochgesängen auf Werkhallen und Industriebetriebe, die ein riesiges Agrarland unter immensen Opfern in die Moderne katapultierten. Der Roman feiert den Humanismus einfacher Menschen, die sich Hitlers Eroberungsplan gemeinsam entgegenstemmen. Es sind die einzigen angestaubten Stellen in diesem Buch, auch wenn sie aus der Rückschau verständlich sind. Grossman selbst erkannte wenige Jahre darauf, dass sein Idealismus ihn getäuscht hatte. Während Schriftsteller wie er ins Abseits gedrängt wurden, erhöhte Stalin den Sieg über Hitler zum Herrschaftsmythos und errichtete darauf die Diktatur seiner späten Jahre.