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Włodzimierz Nowak: Die Nacht von Wildenhagen : Mein Warschaukoller

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Bild: Verlag

Włodzimierz Nowak schildert in seinem Buch „Die Nacht von Wildenhagen“, einer Sammlung von Reportagen, die von 1997 bis 2006 erschienen, zwölf deutsch-polnische Schicksale. Sein Erzählstil pflegt einen neutralen Berichterstatterton.

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          Wenn früher von der polnischen Reportage die Rede war, wurden sofort, meist in einem Atemzug, zwei Namen bemüht: Hanna Krall und Ryszard Kapuciski. Thematisch waren ihre Texte zwar völlig woanders angesiedelt, eines verband sie aber: die Kunst stilistischer Kreation, weshalb sie auch von der Kritik übereinstimmend als „literarische Reportagen“ bezeichnet wurden. Heute spricht man bereits von einer „polnischen Schule der Reportage“, nennt als deren Brutstätte die Redaktion der Warschauer „Gazeta Wyborcza“ und fügt den beiden Namen noch einen dritten hinzu: Magorzata Szejnert. Die 73 Jahre alte „Königin der Reportage“, wie sie von ihren Kollegen gern tituliert wird, belegte soeben gleich mit zwei Büchern – das eine handelt von der schlesischen Arbeitersiedlung Giszowiec, das andere von Ellis Island –, wie gut sie ihr Handwerk beherrscht.

          Dass sich um die „Gazeta Wyborcza“, wo jährlich gut dreihundert Reportagen erscheinen, viele begabte Nachfolger der drei Altmeister gruppieren, konnte man auch hierzulande bemerken: an der von Martin Pollack herausgegebenen Anthologie „Von Minsk nach Manhattan“ (2006) oder an dem glänzenden Soloauftritt, den Mariusz Szczygie mit seinem Buch „Gottland“ (2008) hatte. Nun macht es ihm sein Kollege Włodzimierz Nowak mit dem Buch „Die Nacht von Wildenhagen“ nach, einer Sammlung von Reportagen, die von 1997 bis 2006 in der „Gazeta“ erschienen und, wie es im Untertitel heißt, „zwölf deutsch-polnische Schicksale“ schildern.

          Die Geschichten greifen ineinander

          Mit dem „doppelnationalen“ Hinweis ist mal eine Verflechtung, mal eine Parallelität gemeint, in den meisten Fällen gehen die Geschichten der jeweiligen Protagonisten aber ineinander über. Wie in der Auftaktreportage „Von Wanda, die den Deutschen nicht wollte“, die von dem früheren Unternehmer Gerhard Zandecki handelt. In den achtziger Jahren als Organisator großer Hilfslieferungen für Polen bewundert und gefeiert, fristet er heute in der polnischen Provinz ein Obdachlosendasein. Schuld an seiner Misere ist eine polnische Krankenschwester, die er während seiner Hilfsaktionen kennengelernt hat. Glück, Liebe, gemeinsames Haus, all das gehört längst der Vergangenheit an, es gibt nur noch Vorwürfe und Beschimpfungen.

          Oder, um eine von Nowaks historischen Reportagen als Beispiel zu nehmen, in dem preisgekrönten „Kopfumfang“: der Geschichte der Witaszek-Schwestern, deren Vater 1942 von den Deutschen hingerichtet wurde und die zunächst in das „Heim Pommern“ in Bad Polzin, eines der größten Lebensborn-Zentren des Dritten Reichs, und dann nach Deutschland respektive Österreich verschleppt wurden. Noch als Erwachsene sind Alodia/Alice und Daria/Dora zwischen ihren beiden Identitäten hin- und hergerissen.

          Mein Warschaukoller

          Obwohl sie sich auf die Kriegszeit, sprich: auf das bekannteste Kapitel der schwierigen Nachbarschaft beziehen, sind es in erster Linie diese historischen Reportagen, die den Leser in Atem halten. Das gilt für „Kopfumfang“ wie für die Titelgeschichte, in der die kleine Adelheid Nagel Zeugin eines kollektiven Selbstmords wird. Angesichts der heranrückenden Roten Armee bricht unter den Frauen von Wildenhagen eine Massenhysterie aus, und sie beschließen, sich und ihre Kinder aufzuhängen. Adelheid selbst entkommt knapp dem Tod, indem sie, einen Strick um den Hals, den verlangten Sprung hinauszögert und schließlich von einem sowjetischen Soldaten gerettet wird. Es gibt noch weitere Überlebende, die Bilanz jener Nacht ist dennoch erschreckend: Dutzende Bewohner von Wildenhagen sind tot, in anderen Orten beträgt die Zahl der Opfer sogar mehrere hundert. Fakten, die in Polen bis heute so wenig bekannt sind wie seinerzeit das Pogrom von Jedwabne.

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