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Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. : Einer nimmt seinen Koffer und geht

Bild: Verlag

Warum mündet ein Leben in Gewalt und Terror? In ihrem Roman beschwört Ulrike Edschmid die gemeinsame Vergangenheit mit Philip S., der Freiheit suchte und das Leben verlor.

          5 Min.

          Wie sich der Vorfall auf dem Parkplatz in Köln genau zugetragen hat, der mit dem Tod eines Polizisten, dem Tod von Philip S. und der Verhaftung des schwerverletzten Fahrers und eines weiteren Mannes endete, mit denen Philip S. im Auto unterwegs war, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Ulrike Edschmid, die ihr Buch über „Das Verschwinden des Philip S.“ mit der Beschreibung des Bilds beginnt, das sich den Fotografen in jener Nacht im Mai 1975 in Köln bot, ist es darum auch nicht zu tun. Philip S. war damals verdächtig, an einer Politikerentführung in Berlin beteiligt gewesen zu sein, ein Verdacht, der während des Prozesses zwei Jahre nach seinem Tod nicht bestätigt wurde. Zum Entführungszeitpunkt stand Philip S. mit gefälschten Papieren an der Stanze einer Kölner Fabrik. Möglicherweise auch hat er auf jenem Parkplatz in Notwehr geschossen.

          Verena Lueken
          Freie Autorin im Feuilleton.

          Doch in diesem erstaunlichen und wahrhaftigen Buch, über dem „Roman“ steht, obgleich es eine autobiographische Erzählung ist, geht es nicht um Schuld, nicht um Beweise und Gegenbeweise, nicht darum, aus dem Täter Philip S. ein Opfer zu machen. Es geht um den Menschen Philip S., den die Autorin liebte; es geht um Berlin in all seiner Ärmlichkeit der sechziger und siebziger Jahre, beginnend zu einer Zeit, als sich innerhalb der deutschen Linken noch nicht jene abgespalten hatten, die in den Untergrund gingen, sich bewaffneten und Terrorakte verübten, endend an einem Punkt, an dem dies unwiderruflich geschehen war. Und es geht um den Traum und die Lebensexperimente jener Jahre, die Freiheit versprachen, etwas, das in den schönen, unaufgeregten Sätzen von Ulrike Edschmid immer noch eine Verheißung trägt.

          Untergrund, Banküberfälle und falsche Identität

          Philip S. ist Werner Sauber, und seine Lebensdaten lassen sich bei Wikipedia nachlesen, von wo aus einige Links zu ausführlicheren Texten über ihn führen, die vor diesem Buch auch schon dort standen. Dass er 1967 nach Berlin kam, Student der Filmakademie wurde, dass er nach der Besetzung der Akademie von dort verwiesen wurde, in der Kinderladenbewegung aktiv war, dass er einen Film drehte, den Harun Farocki für einen der besten jener Jahre hält, und dass er sich, nachdem er einige Wochen im Gefängnis war und Holger Meins sich zu Tode gehungert hatte, der „Bewegung 2. Juni“ anschloss, in den Untergrund ging, an Banküberfällen beteiligt war und unter falschem Namen Betriebsarbeit, wie das damals hieß, bei Klöckner-Humboldt-Deutz in Köln leistete, bevor er an jenem 9. Mai 1975 auf dem Parkplatz in Köln erschossen wurde.

          Ulrike Edschmid aber erzählt, auch wenn die Ereignisse dieselben sind, von etwas anderem. So nennt sie viele der Personen in ihrem Buch nur mit einem Initial, H. etwa für Holger Meins, mit dem sie und Sauber und einige andere für eine Weile in Berlin zusammenlebten. Der Schlüssel zu den Klarnamen der Figuren aber ist so groß wie ein ganzes Haus. Dass die Autorin sie nicht ausschreibt, hat wohl denselben Grund, aus dem sie ihr Buch einen Roman nennt - um aus der Distanz das Wesentliche jener Jahre heranzuzoomen, anderes wegzulassen. Es spielt für dieses Buch keine Rolle, dass es Peter Lorenz war, der damals in Berlin entführt wurde, in einer Aktion der „Bewegung 2. Juni“, an der Philip S. nicht beteiligt war.

          Im Spätsommer 1967 kommt Philip S. als Student der Deutschen Filmakademie nach Berlin. „Er trägt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht“, schreibt Ulrike Edschmid, die ihn im Flur der Berliner Filmakademie zum ersten Mal sieht. Seine Eltern sind Schweizer Geschäftsleute, die mit Verkehrsampeln reich geworden sind, sein Elternhaus ist eine Villa am Zürichsee, sein Bruder hat später einen Rennstall gegründet, der berühmt wurde. Von alldem ist Philip S. mit diesem Anzug, einigen Hemden, einem langen Mantel, ein paar robusten Schuhen und einem Gürtel, den er sich aus einem Kälbergurt hatte machen lassen, weggegangen. Als er in Berlin ankommt, ist Benno Ohnesorg bereits tot, und die Protestbewegung nimmt Fahrt auf. Auch die Studenten der Filmakademie politisieren sich.

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