Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes : Poetische Buchstabenwälder
- -Aktualisiert am
Bild: Verlag
Eine Schrift für alle Menschen: Ulf Erdmann Zieglers Roman „Nichts Weißes“ fasst eine Epoche und ihre Generation in 26 Zeichen.
Bei der Lektüre dieser Zeilen wird kaum jemandem auffallen, dass sie in der Schriftart Times gesetzt sind. Auch Leser von Büchern bemerken nur gelegentlich, dass Seiten schön und nicht überladen bedruckt sind, die Type angenehm, ungewöhnlich oder ausdrucksvoll auf sie wirkt. Schrift scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, die selten gebührende Aufmerksamkeit findet. In Ulf Erdmann Zieglers zweitem Roman „Nichts Weißes“ ist das völlig anders. Das Buch führt nämlich in die Zunft der Setzer, Schriftschneider und Grafikdesigner, deren Lebensbalsam sich einer „Serifenalchemie“ verdankt. Natürlich verfügen auch Typographen über eine eigene Sprache, die hier schön zum Einsatz kommt und dem Ohr des Bibliophilen vergleichbar schmeichelt wie Erläuterungen eines kundigen Sommeliers dem Weinkenner. Der Titel des Romans ist dabei Programm, sofern die uns umgebende zivilisierte Welt fast nirgends unbeschrieben ist. Überall wimmelt es von Zeichen und Symbolen, über deren Gestaltung wir kaum nachdenken, die sich aber bis zu den Logos und Labels der Werbung tief in unser Unterbewusstes eingraben.
Marleen Schuller, geboren 1965, ist die Hauptfigur, deren Weg vom Praktikum über ein Fachstudium in Kassel bis ins typographische Berufsleben in Paris führt. Dort entwirft sie bald mit so großem Erfolg Signets für Firmen und Boutiquen, dass man sogar in Magazinen über sie berichtet. Marleen wird gleichsam mit „Lupen in den Augen“ geboren und interessiert sich für Buchstaben, noch bevor sie lesen kann. Von früh an verfolgt sie die fixe Idee, „die Schrift für alle und für jeden Zweck zu erfinden“. Das Staunen, dass man eine Schrift „wie einen Menschen kennenlernen“ muss, wird ihr selbstverständlich. In einer Familie, in der die Mutter professionell zeichnet und der Vater in der Werbebranche wirkt, ist das kein großer Zufall. Marleens außergewöhnliches Talent aber doch.
Immer ernsthaft, nie witzelnd
Entdeckt und gefördert wird ihre Begabung zuerst während eines Praktikums in der Offizin eines gewissen Tankred Volpe. Er betreibt Mitte der achtziger Jahre in Nördlingen eine letzte Bleisatz-Manufaktur. Die Anspielung auf die Werkstatt Franz Grenos ist unübersehbar: Die „Andere Bibliothek“ heißt hier lediglich
“Eigene Bibliothek“, während deren Herausgeber - „mit echsenhaftem Antlitz“ - wie in der Wirklichkeit in München-Schwabing residiert. Bei ihm schauen Volpe und Marleen auf dem Rückweg von einer Bücherreise nach Mailand vorbei und versorgen ihn mit der neuesten italienischen Literatur.
Marleens Karriere als Typographin bildet das Handlungsgerüst dieses Romans, um das sich eine Reihe weiterer Erzählstränge ranken. Da ist etwa die Kindheit mit drei Geschwistern in der Siedlung „Pomona“ in Neuss. Dem Vater Petrus, der früh zu Bhagwan nach Poona verschwindet, gelingt der Durchbruch in der Werbebranche mit einer Aufklärungskampagne für „o.b.“. Im katholischen Rheinland setzt er sie erfolgreich gegen die traditionellen Binden wie die amerikanischen Tampax durch. Dieses Kapitel „Ohne Binde“, das Ulf Erdmann Ziegler während der Entstehung des Romans gern bei Lesungen in den Vereinigten Staaten vortrug, spiegelt besonders gut seine literarische Physiognomie: Er ist ein nüchterner, aber messerscharfer Provokateur, der den katholischen Blutkult, den amerikanischen Puritanismus - denn kraft „Einführhülse“ funktionieren Tampax ohne Selbstberührung - oder das großspurige Gerede von Werbegurus mit gleicher Unnachgiebigkeit geißelt, dabei immer ernsthaft, nie witzelnd.
Wie die Abkürzung für eine Generation
Ziegler ist ein genauer Beobachter von Details und obendrein ein raffinierter Sprachkünstler, der Anspielungen und subtile Verknüpfungen liebt. Der Romanbeginn und der Schluss sind durch Marleens Reise nach Amerika verbunden. Inzwischen ist sie fünfundzwanzig, wird von einem kleinen Sohn begleitet, dessen Vater sich ins katholische Priestertum davongemacht hat. Die „Buchstabenmönchin“ Marleen findet in New York eine neue Welt. Vom Bleisatz in Nördlingen über die Lichtpause in Paris nähert sie sich nun als Vertreterin einer buchgeschichtlichen Übergangsgeneration den aus Kalifornien kommenden Computerfonts. Die Idee einer „Schrift für alle“, hervorgebracht aus einem einzigen kleinen Kasten, ist greifbar geworden: „Jeder wird seine eigene Druckerei sein“ lautet Marleens Vision um 1990, und dafür stellt sie sich nicht nur eine „Modernica“ aus 26 Buchstaben vor, sondern auch zahllose Ornamente oder moderne Hieroglyphen.
Auch Zieglers Roman ist in gewisser Weise solch ein ornamentales Zeichen oder „Dingbat“, was für Disambiguation, also Begriffserklärung, steht. Der weiße Umschlag zeigt unter den kleiner werdenden Majuskeln des Titels, die an Lesetafeln beim Augenarzt erinnern, ein Ei. Eigentlich wäre auch dieses ganz weiß, würde nicht die Titelei darüberliegen. Statt es zu stauchen, wie einst Kolumbus, bringt Ziegler es durch Beschreibung und Beschriftung in aufrechte Position. Der Roman funktioniert insgesamt wie die Abkürzung für eine Entwicklung, eine Epoche, eine Generation. Der Blick wird auf etwas so Universales gelenkt wie die Schrift, was überaus erhellend wirkt, da Buchstaben uns gewöhnlich kaum auffallen.