„Rezitativ“ von Toni Morrison : Wo das Vorurteil beginnt
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Toni Morrison im März 1983, als die Erzählung „Rezitativ“ erschien Bild: Barbara Klemm
Toni Morrison hat nur ein einzige, geniale Erzählung geschrieben. Jetzt erscheint sie erstmals auf Deutsch. „Rezitativ“ fragt, warum wir die einen Menschen für weiß und die anderen für schwarz halten.
Eine einzige Erzählung hat die amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison geschrieben, und sie ersetzt ganze Forschungsbibliotheken darüber, wie das funktioniert mit den alltäglichen Vorurteilen und Abwertungen, auf welchen Zuschreibungen Rassismus basiert, es fängt schon damit an, was ein Mensch isst und wie er seine Haare trägt, wo er wohnt.
Morrison (1931 bis 2019) hat seit ihrem autobiographisch geprägten Debüt „Sehr blaue Augen“ von 1970 Roman für Roman aus dem Leben als Afroamerikanerin erzählt. Sie hat diese weibliche, schwarze Perspektive literarisch zur Geltung gebracht, eine Leistung, gekrönt mit dem Nobelpreis 1993, auf die sich bis heute jüngere Autorinnen beziehen, wenn sie sagen: Toni Morrison hat mir gezeigt, wie das geht, aus meinem Leben zu erzählen, und sie hat mir vor allem gezeigt, dass es sein muss, weil sonst Geschichten ungehört bleiben.
In der kurzen Erzählung „Rezitativ“ aus dem Jahr 1983, die jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, erzählt Morrison von zwei Freundinnen aus einem Kinderheim, die sich mit acht Jahren kennenlernen und dann mit zwanzig, dreißig, vierzig wiedertreffen.
„Am Anfang mochten wir uns nicht besonders“, erzählt Twyla, „aber von den anderen wollte niemand mit uns spielen, weil wir keine richtigen Waisen mit lieben verstorbenen Eltern im Himmel waren.“ Ihr Weg markiert Stationen der amerikanischen Geschichte, beginnt vor der Bürgerrechtsbewegung, wandert durch die gegenkulturellen Sixties hinein in die Reformjahre der Siebziger, als Schulkinder beim sogenannten „Bussing“ von einem Viertel ins andere gefahren wurden, damit sie zusammen lernen. Bei den Protesten, dafür und dagegen, finden sich Roberta und Twyla auf gegnerischen Seiten wieder. Und beteuern beide, immer, es gehe doch nur um ihre Kinder – Kinder, die sie selbst einmal waren.
Nebeneinander, sagt Twyla, sahen wir beiden aus „wie Salz und Pfeffer“, aber konkreter wird Morrisons Text nie: Denn er braucht diese Unklarheit, um seine Dynamik zu entwickeln. Ist Twyla schwarz? Und Roberta weiß? Weil die Mutter der einen gern tanzen geht? Die andere mit ihrem Vater zum Angeln fährt? Oder ist es umgekehrt? Die zentrale Frage dieser Erzählung aber stellt Toni Morrison an ihr Publikum: Wie kommst du darauf, die eine für schwarz und die andere für weiß zu halten?
Man fällt in einen Abgrund aus Scham
In dem Augenblick, in dem man merkt, dass man diese Erzählung weitergelesen und im eigenen Kopf wie von selbst Salz und Pfeffer zugeordnet hat und irritiert davon ist, dass es nicht aufzugehen scheint, fällt man in einen Abgrund aus Scham. Und liest den Text, in dem kein Wort zu viel ist und Motive und Konstellationen sich spiegeln und steigern, noch einmal von vorn. Um den Punkt zu finden, an dem man sich für die eine oder die andere Richtung entschieden hat. Aber der liegt viel früher, er liegt vor der Lektüre, er liegt in den Prägungen, die man sein Leben lang gesammelt hat und in diesen Text hineinliest.
Die britische Schriftstellerin Zadie Smith hat ein sorgfältig analysierendes, auch ihre eigenen Annahmen über Twyla und Roberta in ihre diskriminierende Anteile zerlegendes Nachwort geschrieben: „Das, was an Twyla und Roberta in ‚Rezitativ‘ vielleicht charakteristisch schwarz oder weiß wäre, ist die Folge von Geschichte, geteilter Erfahrung und dessen, was geteilte Geschichten unweigerlich hervorbringen: Kultur, community, Identität.“
Das Nachwort ist länger als die Erzählung selbst, erst ist man irritiert, aber es ist nur der Beweis, dass Geschichten von Toni Morrison ganze Bibliotheken ersetzen.