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Thomas Klings „Werke“ : Er macht der Sprache Feuer unterm Hintern

  • -Aktualisiert am

Der Zustand vor dem Untergang war durchaus attraktiv: Thomas Kling, leider jung verstorben 2005, hier im Jahr 1993 Bild: SZ Photo, Brigitte Friedrich

Eine überzeugende Mischung von E und U: Die vierbändige Werkausgabe Thomas Klings offenbart das Ausmaß der Bildung, Drastik und Komik dieses Dichters.

          5 Min.

          Thomas Kling hat das Erbe vorangegangener Dichtergenerationen so wirkmächtig und entspannt wie wohl kein anderer angetreten. Der unverwechselbare, zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit oszillierende Ton des 1957 in Bingen am Rhein geborenen und 2005 gestorbenen Autors hallt bis heute nach. In der nun erschienenen Werkausgabe gibt es aber immer noch allerhand neu zu entdecken. Von den mehr als zweitausend Seiten dürften um die 850 den meisten Lesern unbekannt sein. Die Nachworte der vier Herausgeber – des Kollegen und Weggefährten Marcel Beyer, der Literaturwissenschaftler Peer Trilcke und Frieder von Ammon sowie der Kunsthistorikerin und Germanistin Gabriele Wix – sind sehr instruktiv.

          Die Bezeichnung „Kling-Sound“ ist angebracht. Als geradezu sprühende Mischung aus genialischem Komponisten und versiertem Sprach-DJ kombinierte Kling praktisch alles, was ihm zu Ohren und vor Augen kam, und legte es, retextualisierend, gewissermaßen wieder neu auf: Dialekte, Soziolekte, Fach- sowie Fremdsprachenpartikel und immer wieder Klänge, neologistisch versprachlichte, oft unschöne Geräusche wie etwa das Rauschen des Radios bei schlechtem Empfang oder auch das Knirschen einer an der Fensterscheibe zerquetschten Wespe. Kling rückt den Hintergrund in den Vordergrund, holt das Überhörte und Übersehene, das Störende und Verdrängte nach vorne.

          Seine Lesungen sind legendär

          Dabei verwendet er das Verfahren der Zeiten und Räume miteinander verschmelzenden oder besser: überblendenden „Doppelbelichtung“; seine Gedichte werden dabei zu Sprach- und Denkbeschleunigern, sie dienen, so jeweils Titel seiner frühen Bände, der „erprobung herzstärkender mittel“ (1986), sie sind „geschmacksverstärker“ (1989) oder Brennstäbe („brennstabm“, 1991). Kling macht der „sprache / feuer unterm hintern“, wie es bezeichnenderweise in dem aus dem Jahr 2000, also aus dem Arbeitszeitraum des Bandes „Sondagen“, stammenden Gedicht „Prometheus“ heißt.

          Klings Dichterlesungen, bei denen er seine „Sprachinstallationen“ bevorzugt im schwarz-gelb gestreiften Wespenpullover vortrug, sind legendär. Ihm war der Auftritt auf der Bühne „Live-Act“: In seinem die Tonlagen und Tonspuren variierenden, mal flüsternden, mal raunenden, mal zischenden Vortrag entfalteten die Texte ihre volle Wucht, seit 2015 nachzuhören auf der ebenfalls wespenfarbenen CD „Die gebrannte Performance“, auf der auch ein drittes „wespen“-Gedicht auf seine poetischen Wappentiere nachzuhören ist. In „wespen 2“ aus dem Spätsommer 1982 fliegen diese mit ihrem „gesenkten stierkopf“ im „tiefflug über die planquadrate der pflaumenkuchen“ und werden von Kling martialisch überformt zu „marschflugkörpern“. Gegen solches Ungeziefer, und damit meint er doppeldeutig auch die „wespn-menschn“, also Unliebsames oder noch deutlicher: Lebensunwertes, hilft nur Gift: „betäubte körper, betäubungen, lähmung / der nervensysteme, zehnminütiges zucken: ohne nennenswerte vorwarnzeit kaltblüter / warmblüter beim dreckigsten verrecken.“

          1,57 Mark pro 500 Gramm

          Als Kling mit derlei Gedichten in den achtziger Jahren die literarische Szene eroberte, lag die Irritationsschwelle der Hörer- und Leserschaft weitaus höher, als dies zu Zeiten der provokativen Avantgarden zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der Fall war. Kling war das pauschale „Avantgarde-Bashing“ seiner Zeit ein Dorn im Auge. Zuwider waren ihm die „verbissenen bis verbitterten Aburteilungen“ der Avantgardisten als „utopisch-begeisterte, spirituell fanatische respektive kriegsgeil vernebelte Steigbügelhalter und Zungenredner der totalitären Jahrhundertregime“. Dass er irgendwann im Bücherschrank seines Großvaters Kurt Pinthus’ Anthologie „Menschheitsdämmerung“ der „Generation Verdun“ in die Finger bekam, ist bekannt. Dass er dem Expressionismus aber nicht nur als junger Leser zugetan war, sondern auch sein eigenes frühes Schreiben deutlich expressionistische Züge trägt, lässt sich in seiner ersten Gedichtsammlung, „der zustand vor dem untergang“, studieren. Sie war 1977 bei einem kleinen, von seinen Schulfreunden gegründeten Kunstverlag erschienen und eröffnet nun den ersten Band der Werkausgabe.

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