Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio : Ein Land so still wie ein unerfülltes Versprechen
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Bild: Manesse Verlag
Sherwood Andersons Erzählsammlung „Winesburg, Ohio“ ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur. Jetzt sind zwei grundverschiedene - und beide äußerst lesenswerte - Neuübersetzungen erschienen.
Man könnte von den Themen und Figuren sprechen. Wir lesen von vergrübelten jungen Männern, leerer Landschaft, gestrandeten Alten, die nur noch die Erinnerung lebendig hält, von enttäuschten Ehefrauen, einem heruntergekommenen Hotel und dem Klatsch eines sehr kleinen Ortes im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Kaum einer ist glücklich in Winesburg, Ohio. Fast jeder hat eine belastete Geschichte und zeigt einen Zipfel davon, wenn der richtige Zuhörer sich nähert. Oft aber sprechen die Menschen nur mit sich selbst, weil sie ihre innere Welt mit niemandem teilen können. Wir lesen von einem Farmer, der sich aus religiöser Inbrunst ein Agrarimperium aufbaut; einer jungen Lehrerin, die sich in den siebzehnjährigen Lokalreporter verguckt; einem Pfarrer, der ein Stück aus dem Kirchenfenster bricht, um abends die nackten Arme einer lesenden Frau zu beobachten. Träumer, Sehnsüchtige, Voyeure, Verlierer. Hier und da ein Hauch von Aufbegehren oder ein Augenblick der Epiphanie, der den Alltag in ein anderes Licht taucht: In den Beschreibungen von Sherwood Anderson wird die Welt zu einem traurigen Ort, und das Einzige, was sie rettet, ist der unglaubliche Glanz seines Schreibens.
Mit seinem Erzählreigen um eine amerikanische Kleinstadt kurz nach 1890 gilt Sherwood Anderson (1876 bis 1941) als Vorläufer Faulkners und Hemingways, und dass er das literarische Talent beider früh erkannte und von beiden überflügelt wurde, garantiert ihm vor allem die Nennung in Faulkner- und Hemingway-Biographien. Die zwanzig Erzählungen und zwei Rahmengeschichten, aus denen sich „Winesburg, Ohio“ zusammensetzt, spielen in einem 1800-Seelen-Ort, der nach Clyde in der Nähe des Eriesees modelliert ist, dem Dorf, in dem Anderson aufwuchs. Am Anfang lässt ein alter Mann, „der Schriftsteller“, im Wachtraum groteske Gestalten an sich vorüberziehen. Sie beschäftigen ihn, diese Figuren, er glaubt, einige Wahrheiten über das Leben an ihnen zu erkennen; dann quält er sich aus dem Bett und beginnt, über sie zu schreiben. Ganz am Ende des Buches wird George Willard, der junge Redakteur des „Winesburg Eagle“, der durch alle Erzählungen des Bandes geistert und sie zur Einheit schmiedet, seinen Heimatort verlassen, um in die Welt hinauszugehen und Schriftsteller zu werden. Wir Leser wissen es schon, denn der alte Mann des Beginns dürfte George Willard sein, so dass wir durch die Lektüre an der Entstehung genau des Buches teilhaben, das wir in Händen halten.
„Winesburg, Ohio“ ist die Erforschung des Lebens mehrerer Dutzend Figuren in einem Dorf kurz vor dem Beginn der Industrialisierung, als schon die Ausläufer des technischen Fortschritts zu sehen sind, das Landleben seine Selbstverständlichkeit verliert und sich alle nebulösen Zukunftshoffnungen auf das kommerzielle Treiben „der Stadt“ richten (Andersons Buch erschien 1919, als die Vereinigten Staaten gerade zur Weltmacht aufgerückt waren). Doch auch die verträumte Gegenwart dieses Nests mit seiner Main Street, seinem kleinen Bahnhof, Winneys Stoffgeschäft und Biff Carters Speiselokal ist für die Älteren schon modern und unübersichtlich geworden; wie Tom Fosters Großmutter, die nach fünfzig Jahren in ihren Heimatort zurückkehrt und nichts wiedererkennt, erinnern sie sich an den Weiler von fünfzehn Häusern, der Winesburg einmal war. Zeit, Geschichte und Tod sind also die großen, aber mit größter Dezenz umspielten Themen dieses Buches, und jedes der hier beschworenen Leben zeichnet seine eigene feine Linie: den Übergang von der Jugend zum Alter, von der Tat zur Reflexion, von der Ernüchterung zur Resignation.