: Schönheit verpflichtet
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Sie haben Vornamen wie Louise oder Lorine, und hierzulande kennt sie kaum jemand: die großen amerikanischen Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Band versammelt sie und stillt unseren Hunger nach Lyrik. Dornen hat nicht nur die Rose, sondern auch der Mensch, der darin, ob ihm das gefällt oder nicht, der Königin der Blumen gleicht.
Sie haben Vornamen wie Louise oder Lorine, und hierzulande kennt sie kaum jemand: die großen amerikanischen Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Band versammelt sie und stillt unseren Hunger nach Lyrik. Dornen hat nicht nur die Rose, sondern auch der Mensch, der darin, ob ihm das gefällt oder nicht, der Königin der Blumen gleicht. "diese dornen - sie sind der beste teil an dir." Selten hat jemand, wie hier die amerikanische Lyrikerin Marianne Moore, das Rosenmetier dem Menschen auf diese Art nahegelegt. Keineswegs, um ihn in romantisches Denken zu versetzen, sondern um ihm zu sagen, dass die "Schönheit eher eine Verpflichtung / ist als ein Vorteil". Das Gedicht darf alles, auch über eine außerzeitliche Erinnerung verfügen und sich an einem eigenen Gedächtnis bedienen, ja dieses sogar installieren. Aber wo? Im Wort. Das ist seine Bleibe.
Welches Gedächtnis die Sätze amerikanischer Lyrikerinnen haben, das mag sich auch der Übersetzer und Herausgeber Jürgen Brôcan bei der Zusammenstellung seiner bemerkenswerten Anthologie "Sehen heißt ändern" gefragt haben. Dreißig amerikanische Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts stellt er nun in einer zweisprachigen Ausgabe vor, darunter Marianne Moore, deren Buch "Kein Schwan so schön" er bereits vor einigen Jahren übersetzt und im Urs Engeler Verlag veröffentlicht hat.
Ausgewählt hat Brôcan, der selber Lyriker ist, die Dichterinnen auf eine Art, wie es vielleicht nur ein Wortliebender vermag. Das Nachwort ist ein kundig-rhapsodischer Spaziergang durch die Welt der "wahren Stimme" der Lyrikerinnen. Teils betreten diese erstmals die Bühne des deutschen Sprachraums, wie die 1997 verstorbene, wortkämpferische Denise Levertov. Möge diese Anthologie unserem Hunger nach Gedichten zur Sättigung verhelfen!
Bemühten wir dafür nur Louise Bogan (1897 bis 1970), wie kämen wir dabei auf unsere Kosten, wenn es beispielsweise in ihrem Gedicht "Die Libelle" heißt: "Aus fast nichts bist du geschaffen /. . . Glied zwischen Wasser und Luft / Die Erde weist dich zurück /. . . Zweimal Geborene, Räuberin / Du spreizt dich in die Hitze. / Seglerin jenseits von Berechnung und Beute, / Du schnellst in den Schatten / Der dich verschlingt"? Die Verbindung aus Ätherischem, Unbeweisbarem und Dinglichem ist allen Gedichten auf jeweils eigensinnigste Weise gemeinsam. Und dieser Eigensinn, die mit bester poetischer Willkür gespickte Eigenart, sich Sätzen, Wörtern, Dingen und Menschen zu nähern, könnte manchmal gar nicht unterschiedlicher als bei diesen Dichterinnen sein. Aber das ist eine Qualität, verfolgt der Band doch eine großzügige innere Spur, die sich gleichsam in Kreisen dem Menschen nähert. Auch das Wort "Gott" wird gesagt, mit der gleichen merkwürdigen Mischung aus Scheu und Entschiedenheit, was bei Lyrik geradewegs betörend ist, wie etwa beispiellos gelungen in dem Gedicht Muriel Rukeysers "Ein Steinchen mitten auf der Straße, in Florida", das mit der Zeile beginnt "Als Kind sagte mein Sohn: / Gott/ ist alles mögliche, selbst ein Steinchen mitten auf der Straße / in Florida."
Alle Dichterinnen haben sich selbst als "feministisch" verstanden; in ihrer Zeit war diese Bezeichnung notwendig. Heute wirkt sie ein wenig anachronistisch und überflüssig, weil die Gedichte selbst, von heute aus betrachtet, keinerlei Hemmschwellen kennen, moderne Gedichte im besten Sinne sind, die sich auch gegen Traditionen gestellt haben, ohne sie zu dämonisieren - im Gegenteil, sie haben sich ihrer selbstbewusst bedient. Das Nachwort widmet sich dem Gegenstand in einem feinen Essay, der eine Annäherung an das Thema "Frauen-Dichtung" wagt und in dem wir erfahren, dass beispielsweise Elizabeth Bishop und Laura Riding testamentarisch darüber verfügt haben, niemals in eine Anthologie aufgenommen zu werden, die sich auf Frauen beschränkt. Das ist nachvollziehbar; jede Begrenzung schadet der Literatur, die sich schon seit jeher die Entgrenzung zur Aufgabe gemacht hat. In diesem Fall leuchtet aber in vielfacher Weise die Konzentration auf Frauen ein, denn obwohl sie sich ihrer "wahren Stimme" bedient haben, sind nicht alle ihrem Rang entsprechend bekanntgeworden. Oft lag auch anfangs in Amerika der Grund für das Ignoriertwerden schlicht an der Übermacht männlicher Kollegen. Unter den dreiundvierzig Dichtern, die seit 1937 zum Poet Laureate (die höchste Ehrung für einen amerikanischen Dichter) gekürt wurden, waren neun Frauen.
Die Themen entstammen dem Ursprung der Lyrik: Natur, Leben und Tod, das "große Gewebe", wie es bei Levertov heißt. Im Gedicht werden einiges Unbewusste, Versteckte, Verdrängte, auch der Körper, das Geschlecht, die in ihm harrenden Geheimnisse freigelegt. Wieder und wieder taucht in starken Farben und Formen die Natur auf. "Wie eine Welle emporsteigt" von Hilda Morley (1919 bis 1998) beschreibt das Aufkommen und das Dasein der Wellen, als wäre dies eine speziell für das Gedicht geborene Freude.
Lorine Niedecker (1903 bis 1970), die zu den unbekannteren, aber aufregendsten Dichterinnen dieses Bandes gehört, gebührt besondere Aufmerksamkeit. Sie brach als junge Frau nach zwei Jahren ihr College ab, um ihre kränkliche, taube Mutter zu pflegen; ihr Vater war Fischer. Niedecker verbrachte den größten Teil ihres Lebens auf Black Hawk Island an den Ufern des Rock River, in der Nähe des Lake Koshkronong in Wisconsin. Sie war Stenographin, Putzfrau und Bibliotheksassistentin. Erst sehr spät nahm man sie als Lyrikerin wahr. Weder ihre Verwandten noch ihre Nachbarn wussten, dass sie schrieb. Allein mit den hier abgedruckten fünf relativ kurzen Gedichten hat sie eine einzigartige Sprachpräsenz in diesem Buch, dass man ihr auf der Stelle einen Verlag wünscht, der sich ihrer hinterlassenen Gedichte in deutscher Übersetzung annimmt. Schon ihre Titel - "Wenn Ekstase lästig ist" - muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. In diesem Gedicht heißt es am Schluss "Voller Staunen sieh, wie / oft man seinen Wahnsinn/ in die eigenen Hände nimmt/ und ihn behält."
Wie man einen Schmetterling halten kann, ohne ihn in Staub zu verwandeln, das erzählen diese Gedichte. "Sehen heißt ändern" ist eine große Wörterschatzkiste, die uns überkontinental schwimmen, fliegen, reisen lässt, eine fürs Lebendige gemachte Herz- und Wörterbörse, an der es keinerlei Verluste, aber einige Klarheiten, einige Wahrheiten zu ernten gibt, wenn man nur bereit ist, sich zum Landarbeiter des Alphabets zu machen.
MARICA BODROZIC
"Sehen heißt ändern". Dreißig amerikanische Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Eine zweisprachige Anthologie. Hrsg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Brôcan. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2006. 354 S., br., 36,- [Euro].