Rezension : Wiederentdeckte Avantgarde: „Jazz“ von Hans Janowitz
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Bild: Weidle Verlag
Vibrationen nehmen ihren Lauf, ein Lebensgefühl verwandelt sich in Literatur, die wie Musik ist. Janowitz' Techniken erinnern an neuere Popliteratur.
Vibrierende Gegenwart dringt nicht selten in reinster From in das Medium der Musik ein. Von dort wirkt sie sekundenschnell auf den Körper, der zu zucken und zu zappeln beginnt. „Die Melodie des eisernen Geratters auf dem Schienenstrang machte Henrys in Tanzrhythmen pulsierendes Blut immer mehr schäumen, die Beine fliegen, die Arme fuchteln.“ Zuweilen drängen die gleichen Vibrationen aber auch auf ein anderes Speichermedium: ein Blatt Papier.
Der, von dem die gerade zitierten Zeilen aus einer vergangenen, vibrierenden Gegenwart stammen, war 1954, als er in New York starb, bereits in Vergessenheit geraten. Die Nazis hatten den Roman mit dem richtungsweisenden Titel „Jazz“ verboten. Hans Janowitz - jüdischer Herkunft - war 1939 in die Vereinigten Staaten emigriert.
Dabei hatte alles so gut begonnen. Anfang der 20er-Jahre, im kulturell blühenden Berlin, verfasste er zusammen mit Carl Mayer das Drehbuch zu „Das Cabinet des Dr. Caligari“. Sein einziger Roman erschien 1926 und wurde ein großer Erfolg: „Kapriziös, eigenwillig, betäubend ist dieses Buch, das unsere Zeit und ihr Tempo mit ungezogener Grazie schildert“, schrieb Paul Leppin in „Die Literatur“ (1926/27).
Wiederentdeckung
Erst vor kurzem hat der Verleger Stefan Weidle Janowitz' Roman wieder ausgegraben und mit einer kommentierten Jazz-CD neu herausgegeben. Nicht nur literarisch, auch musikalisch kann man sich nun in die Clubs und Bars der 20er Jahre zurückversetzen lassen.
„Jazz“ kann als Versuch gelesen werden, Gegenwart und Musik nicht nur einzufangen, sondern in der Schrift erneut aufleben zu lassen. Dieses Unterfangen hat dabei eine gewisse Ähnlichkeit mit dem der neueren arrivierten Popliteratur: Ob Andreas Neumeister, Thomas Meinecke oder Rainald Goetz - auch bei diesen Autoren wird die vibrierende Gegenwart nicht nur nacherzählt, nicht nur registriert, sondern mittels geeigneter formaler Mittel in ihrer Komplexität und Schönheit nachgezeichnet. Was die Soundschleifen bei Neumeister sind, die Samples bei Meinecke, ist der Techno - repetitiv und referenzlos - bei Goetz.
Blühender Unsinn
Knapp 75 Jahre früher lassen sich ähnliche Techniken bereits bei Hans Janowitz beobachten. Sein Roman beginnt programmatisch: Der bleiche Fiedler, „der die Schützengräben des interstaatlichen Brudermordkonzernes vier Jahre lang abgewandert hatte“, schreibt er, hatte endlich ausgedient. Der jetzt an die Reihe kam, war sein „Bruder Narr, der Mann der Synkope“.
Der Jazz wurde zum Synonym für ein neues urbanes Lebens- und Rhythmusgefühl. „Als sollte es nur noch Bubiköpfe in einer Welt geben, die eben erst ihre Bubis auf dem Altar der verschiedenen Vaterländer umgebracht hatte ...“ Die Jugend emanzipierte sich vom Drill des Kaiserreichs und wollte lieber die Tillergirls sehen: „Let's Misbehave“.
Janowitz' mit ironischem Ton erzählte Geschichte hat ihren Ausgangspunkt in einem ratternden Zug. Die gelangweilte Mae R. täuscht einen Ohnmachtsanfall vor, der dem Bonvivant Lord Henry gerade recht kommt: Er gibt sich als Arzt aus und holt die Dame durch Mund-zu-Mund-Beatmung wieder ins pralle Leben zurück. Die Ungehörigkeit fliegt auf, und der junge Mann ist gezwungen, den ihm durch seinen Stand vorgezeichneten Weg zu verlassen. Er gründet in Paris „Lord Punch's Jazz-Band-Boys“.
Kein Roman üblichen Schlags
Weitere Stränge, die in London ausgelegt werden, führen schließlich nach Paris: Ein verrückter Maler taucht auf, Madame Mae R. verschwindet spurlos, Anwälte und Privatdetektive versuchen, die verschiedenen Fährten der Geschichte freizulegen, und immer wieder schaltet sich der Erzähler selbst ein: „Man erlaube mir, den Umstand, daß ich einen Jazz-Roman schreibe, als Ausrede oder Entschuldigung dafür zu benutzen, daß dieses Buch kein Roman üblichen Schlags wird. Andere Gesetze, so glaube ich, walten über diesem Buche, so wie über einer Jazzpièce andere Gesetze walten als über einer Sonate für Klavier und Geige.“
Der „Jazz-Roman“ gewinnt permanent an Fahrt, neue Figuren - Tänzer, Künstler, Snobs - kommen hinzu, der Erzähler lässt sie wie ein Bandleader nach der „synkopischen Struktur“ des Textes tanzen, er variiert Leitmotive und improvisiert über das Thema. So entsteht eine schwungvoll-verschlungene Partitur, die alle Solisten am Ende in einem aberwitzigen Finale zum großen Paukenschlag zusammenführt.