Rezension: Belletristik : Sisyphos zieht in den Krieg
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Ein vorläufiger Abschied von Licht und Schatten: Albert Camus und sein Versuch über das Absurde in einer neuen Übersetzung
Es gebe nur ein wirklich ernstes Problem, und das sei der Selbstmord. Mit diesem Satz beginnt ein berühmtes Buch, "Der Mythos von Sisyphos". Es wurde im Krieg geschrieben und in Paris, das von deutschen Truppen besetzt war, veröffentlicht. Der Autor hieß Albert Camus. Er hatte schon auf sich aufmerksam gemacht, nur wenige Monate vorher war sein Roman "Der Fremde" erschienen. Dieses Buch sei, so bemerkte Roland Barthes, "ein gesellschaftliches Ereignis" gewesen. Man habe sich mit diesem Roman verbunden gefühlt "wie mit einem dieser vollkommenen und bedeutungsvollen Werke, die an gewissen Wendepunkten der Geschichte auftauchen und einen Bruch, eine neue Empfindungsfähigkeit bekunden". Als wenige Monate darauf "Der Mythos von Sisyphos" vorlag, erklärte Jean-Paul Sartre, es handele sich hier um eine "Theorie des absurden Romans", ein argumentierendes Nachspiel zum "Fremden".
Im "Mythos von Sisyphos" ging es darum herauszufinden, was es bedeute, ein Leben ohne Hoffnung auf eine erfüllte Zukunft, ohne ewige Wahrheiten und Illusionen zu führen. Ein Sprung in eine rettende Einheit mit der Welt, ob im Lebensplan, in den ideologischen Zielen einer politischen Partei oder im Glauben an einen Weltenlenker, war in den Augen von Camus ein Verrat an der Lebenserfahrung. Er suchte unmittelbare Wahrheiten, eindeutige Grunderfahrungen, von denen man nicht absehen konnte, wollte man sich nicht selbst betrügen. Das Gefühl des Absurden, des unauflösbaren Zwiespalts zwischen der Sehnsucht des Menschen und den Grenzen des Lebens, war eine solche Gewißheit des Herzens. "Aber ich habe mit Ideen oder mit der Ewigkeit nichts zu schaffen. Die Wahrheiten, die mir entsprechen, kann ich mit Händen greifen." Das Wissen um das Absurde gebot, die Auflehnung, die Freiheit und die Leidenschaft zu wählen. Camus erarbeitete sich eine "Lebensregel". Er verwarf die Vorstellung, zu Lasten der Gegenwart einen Wechsel auf die Zukunft auszustellen: "Sein Leben, seine Auflehnung und seine Freiheit so stark wie möglich empfinden, das heißt: so intensiv wie möglich leben."
Im Jahr 1960 hat Günther Rühle in seinem Nachruf auf Albert Camus beschrieben, welche Bedeutung diesem Buch in den fünfziger Jahren in Deutschland zukam. Camus habe den Mythos von Sisyphos, "dem sich stets vergebens Mühenden, zu unserem Spiegel gemacht: Da war der vom Glauben an Gott und Fortschritt leergebrannte Mensch, der lächelnd die Sinnlosigkeit seines Daseins ertrug . . . Es traf uns als Sinnbild in den hoffnungslosen Jahren nach der Katastrophe. Die Gedanken aus der Résistance schlugen nach Deutschland zurück. Sie erwiesen sich als mächtiger als die deutschen Uniformen." Karl Korn erklärte in seinem Nachruf auf Albert Camus, "der moderne Mensch" müsse in diesem Buch von Sisyphos "eine der dichtesten Darstellungen des Verlustes der Innerlichkeit, seit Gott tot ist", erkennen. Camus lege "die menschliche Existenz als die schlechthin vergebliche" aus. Drei Jahre früher, im Oktober 1957, als Camus den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, verstand Karl Korn vor dem Hintergrund "unserer Lage, die durch Einsicht und Verzicht, durch Wissen und Fatalismus zugleich gekennzeichnet ist", Sisyphos "als eine treffende Figur, als ein Sinnbild unserer selbst".