Rezension: Belletristik : Picknick der Reformer
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Mit Ei und Tomate: Eric Chevillard erklärt die Mängel des Systems
Das Aprilwetter geht Eric Chevillards Romanhelden auf die Nerven. Furne hat auch sonst einiges auszusetzen. Fehler und Mängel, wo man hinschaut. Eigentlich ist doch die ganze Wirklichkeit revisionsbedürftig, entspricht sie doch keineswegs unseren Bedürfnissen und wirkt unseren Träumen geradezu entgegen. Von der Spezies Homo sapiens gar nicht zu reden! Die sollte endlich das Feld räumen und definitiv aussterben, um einer würdigeren Gattung Platz zu machen - "eine globale und systematische Reorganisation des alteingesessenen Systems steht an."
Mit so radikaler Konsequenz äußert Furne den Wunschtraum eines Künstlers, der sich an die Stelle Gottes setzen will, um die Schöpfung zu korrigieren. Dazu muß er sie freilich erst abschaffen. Für den jungen französischen Romancier Eric Chevillard hat Literatur die Aufgabe, mit Wörtern und Sätzen die Wirklichkeit aus den Angeln zu heben, sie sozusagen vor dem Leser unmöglich zu machen und als komplette Pleite auszuweisen. Das Wirkliche ist eine Variante des Möglichen, aber natürlich nicht die beste.
Diesen subversiven Vorsatz bekundet Chevillard in all seinen sieben Romanen, von denen nun auch zwei in deutscher Übersetzung vorliegen. Erstaunlicherweise zählt man Chevillard zu den "Minimalisten" unter den neuen französischen Romanciers, obwohl sein Anliegen, die Wirklichkeit durch ein sprachliches Konstrukt zu ersetzen, eher ein maximalistisches Vorhaben darstellt.
Für Chevillard ist die Literatur ein Spiel, aber ein äußerst hinterhältiges, denn erst stellt sie der Wirklichkeit ein Double an die Seite und reißt danach beide fort - in den Strudel der reinen Illusion. Chevillard ist ein Virtuose in der Kunst der allmählichen Verflüchtigung der Wirklichkeit. Was er erzählt, hebt er sogleich wieder auf. Nirgends kann sich der Leser festhalten. Tatsachen oder beschreibbare Zustände gibt es in seinem Roman ebensowenig wie ordentliche Handlungsabläufe, und nichts hält Chevillards verbalen Kaskaden, den verschachtelten Geschichten, skurrilen Einfällen und den ständigen Abschweifungen stand.
Was mit dem Leser geschieht, erinnert an eine Seiltanznummer: Plötzlich sieht man im Gegenlicht das Seil nicht mehr - und der Artist scheint in der leeren Luft zu schreiten. Solche Seiltänzer sind sowohl der Autor als auch sein Held Furne, der ein umfassendes "Manifest für eine radikale Reform des alteingesessenen Systems" verfaßt hat und als Gast im Forschungszentrum des mysteriösen Professors Zeller weilt. Vom genauen Inhalt des Manifests erfährt man wenig, beschrieben wird im Roman nur eine Art Picknick mit Käse, Eiern, Tomaten. Doch die banale Tätigkeit des Tomatenschneidens stellt das gesamte naturwissenschaftliche Weltbild in Frage und mobilisiert die Geschichte der Physik bis hinunter zu Archimedes. Und kann man ein Ei, ein so symbolträchtiges Gebilde, die Keimzelle des Universums, einfach hartkochen, ohne gleich ganz vorne anzufangen oder zumindest bei Adam und Eva? Das Wahre ist das Ganze: so lautet der Wahlspruch der unermüdlichen Reformer.
Chevillards Ironie trifft nicht nur die herrschenden Zustände, ebendas "System", sondern vor allem die von unbändigem Tatendrang beseelten Erneuerer. Doch die Schlange beißt sich in den Schwanz. Schließlich fällt auch die Literatur und mit ihr der Geist des grundsätzlichen Widerstands dem radikalen Zweifel zum Opfer. Furne, sagen alle, sollte eigentlich Romane schreiben, aber bald muß er die Sprache für bankrott erklären und zugestehen, daß die Phantasie nur dazu taugt, einen faden Abklatsch der Wirklichkeit herzustellen.
Das Reformprojekt scheitert am Ende an der simplen Motorpanne des Fahrzeugs, das die Gästeschar vom Picknick nach Hause bringen soll, so wie Chevillard seinen eigenen Roman auflöst und als eine zwar virtuose und überaus amüsante, aber letztlich selbstgenügsame Fingerübung ausweist. Aus dem stotternden Motor kommt nur noch, was auch nach dem schönsten Feuerwerk zurückbleibt: blauer Rauch. GÉRALD FROIDEVAUX
Eric Chevillard: "Zellers Gäste". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Ulrike Peters-Kania. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1996. 141 Seiten, geb., 38,- DM.