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Rezension: Belletristik : Niedergang im Hochgebirge

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          3 Min.

          Man weiß nicht, weshalb Georges Vasseur sich das alljährlich zumutet, denn eigentlich ist er ein recht unabhängiger Geist. Der seiner Zeit gemäßen Konvention der Sommerreise zum Kurort aber folgt auch er. Dabei ist ihm alles an dem Unternehmen zuwider: die Anreise, die Landschaft, der Kurort und die Leute - die besonders. Sie sieht er als "unerträgliche Kollektionen sämtlicher Vertreter der Menschheit" oder auch schon mal als "Kanaillen, deren Beschreibung ich jungen Mädchen kaum zur Lektüre empfehlen könnte".

          Georges Vasseur also kurt drei Wochen lang, und das in den Pyrenäen, wo der Gebirgsbach rauscht und ihn die 75 Beherbergungskästen des Ortes an Kasernen und Irrenhäuser erinnern. Die Pyrenäen hingegen erinnern ihn an Berge, auch etwas, dem er wenig abgewinnen kann, denn "was ich den Pyrenäen am meisten vorwerfe, ist, daß sie ein Gebirge sind". Der Kurbetrieb selbst stellt sich gravierend anders dar als der heutige mit seinem strengen Anwendungsreglement. Typisch sind hier vielmehr leichte Spaziergänge und der Verzehr schwerer Speisen, und beides gibt Anlaß und Gelegenheit zu Selbstdarstellung und Kommunikation.

          "Nie wieder Höhenluft" ist im Kern das Protokoll eines Lauschangriffs auf die Figuren, die sich Georges Vasseur aufdrängen, denn "mit jenen Seelen verkehre ich nicht. Ich begegne ihnen, was etwas ganz anderes ist." Diese distanzierende Klarstellung ist verständlich, denn bei "jenen Seelen" handelt es sich ganz überwiegend um skrupellose Besserverdienende, die bürgerliche Doppelmoral selbstbewußt bis hin zum Mord dehnen, und da ist ein demokratischer Moralist wie Vasseur definitiv in der falschen Gesellschaft.

          In der fühlt er sich aber nicht nur am Kurort, sondern auch generell, denn jenes Personal, das in den Pyrenäen das große Wort führt, hat für ihn auch sonst die Französische Republik in der Hand. Das fängt an mit dem Dauerminister Georges Leygues, der dröhnend seine Technik erläutert, einem jeden Kabinett, unabhängig von der sonstigen politischen Zusammensetzung, anzugehören - gegen Ende einer Suada zerbirst eine Victor-Hugo-Büste vor Lachen.

          Der historische Dauerminister gleichen Namens soll über diesen Teil des Buches eher nicht gelacht haben, der Sohn eines ebenfalls mit Klarnamen gewürdigten Advokaten hat den Autor gleich zum Duell gefordert. Und wo der Minister kritische Einwände Vasseurs gegen seine Strategie mit dem Hinweis auszuhebeln versucht, er müsse sich da in Mensch und Amtsinhaber teilen, denn "als Minister könnte ich diese Ansichten, die ich als Mensch vertrete, nicht befürworten, ich muß sie sogar bekämpfen", da sagt an anderer Stelle Père Plançon, zur Rede gestellt, was ihm einfiele, nach 42 Jahren als Theaterstatist bei seiner Abschiedsvorstellung einen Satz mehr als im Text vorgegeben zu sprechen: "Es gibt keine zweierlei Ehre. Es gibt nur anständige Menschen."

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