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Rezension: Belletristik : Mit Schmetterlingsbrille

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Viel zu kressig: Die Traumwelten des Japaners Kobo Abe

          3 Min.

          Der letzte Roman des 1992 gestorbenen japanischen Autors Kobo Abe (geboren 1924) ist ein Roman aus Traumsequenzen, der noch ganz im munteren Alltagsleben beginnt. Doch der Angestellte einer Büroartikelfirma, der gerade den glänzenden Einfall der Erfindung von Notizheften in Känguruhbeutelform hatte, wird von einem unheimlichen Kressebewuchs an den Beinen befallen.

          Das kleine phantastische Motiv, gleichsam der Spaltpilz, der von nun an das Reale vom Irrealen scheiden wird, wächst in Abes Roman zu einem immer üppiger wuchernden Labyrinth. Bald ist gar kein Halten mehr, die Reise ins Jenseits, zum Totenfluß, beginnt. Station für Station steigen wir tiefer hinab in eine erträumte und bedrohliche Welt, die von lauter deklamierenden, aber rasch vorbeihuschenden Gestalten bewohnt wird.

          Für den Leser wird diese Höllenreise mit der Zeit immer anstrengender. Denn Abes ganzer Eifer gilt nicht nur dem Symbolischen, den großen Zeichen in seinen Träumen, sondern mehr noch einer eigenartigen Pedanterie, die ihn diese Träume bis ins letzte Detail ausstaffieren und durchgestalten läßt. Abe hält sich daher in seinen Träumen so auf, als müßten sie ins Reale zurückgeholt werden, wo in der Tat jede Einzelheit nach Erklärung verlangt.

          Große Genauigkeit in Träumen jedoch wirkt sich eher langatmig aus. Der Leser fragt nämlich gar nicht nach Erklärungen und Lösungen offenkundiger Rätsel, er ist schnell bereit, den Wundern und Heimlichkeiten zu folgen, wenn es denn nur faszinierende, vieldeutige Wunder und Heimlichkeiten sind.

          Gerade diese Mehrdeutigkeit hat jedoch Abes Erzählen nicht. Denn in dem Schriftsteller Abe steckt neben dem Traumzauberer noch ein durch und durch moderner, teils ironischer, teils satirischer Autor, der die Welten der japanischen Zivilisation in großem Tempo, knapp, präzis und anschaulich, aufklappen kann wie Bilderbuchseiten. Die vorzügliche Übersetzung von Jürgen Stalph arbeitet dieses rasante Tempo heraus: kein Wort zuviel, vor allem keine unnötigen Verben, die Dialoge pointensicher und treffend auch in der Jargon-Wiedergabe.

          Beide Elemente dieses Erzählens stehen sich aber in der Folge der Traumsequenzen sehr im Wege. Wenn man eben noch meinte, mit Kafkas Gregor Samsa auf die andere Seite des Lebens zu gelangen, wo das Alltägliche fremd wird und jeder früher bekannte Weg zu einer Klettertour, so verläßt Abe dieses Schwanken zwischen Realität und Irrealität sehr bald, um uns mit den seltsamen Riten unterirdischer Völkchen bekannt zu machen. So eigentümlich die nun sein mögen, sie interessieren uns leider sehr wenig, und wir finden an der langen Reise von Abes Angestelltem erst dann wieder Gefallen, wenn uns Szenen angeboten werden, deren Phantastik nicht ganz im Unterirdischen verschwebt, sondern gleichsam mit realem Futter durchsetzt ist.

          Dann finden wir uns etwa in einem zwar ganz und gar ungewöhnlichen, keineswegs alltäglichen Krankenhaus wieder, wo unser Angestellter Bekanntschaft mit den skurrilen Patienten und ihren Sitten macht, die allesamt einer klassischen Patientenintelligenz zu verdanken sind. Solche Szenen sind nicht in einem Nirgendwo, sondern in einem phantastischen Anderswo angesiedelt. Die Gespräche, die die Patienten führen, sind daher keine Geheimsprachen, sondern zumindest zum Teil auch Gespräche, wie sie in uns allen bekannten Krankenhäusern geführt werden könnten. So durchdringt das Phantastische in solchen Momenten die letztlich ja nicht umzubiegende Präsenz unseres Alltagswissens, und gerade dessen Demaskierung beherrscht Kobo Abe mehr als alles andere.

          Sein letzter Roman läßt einen vermuten, daß ihm dieses Können nicht genug war. Abe wollte mehr schreiben als eine pointiert gezeichnete Skizze aus dem japanischen Gesellschaftsleben: Er wollte noch etwas von Dante, Kafka und dem europäischen Gruseluniversum dazu. All diese Momente treiben aber nun durch sein großes Erzähllabyrinth wie schlecht amalgamierte Brocken. Vom Tiefsinn haben sie zu wenig, von der glatten Oberfläche aber auch, so daß man gerade in den wildesten Traumsequenzen hilfesuchend nach dem einzigen frei Haus garantierten Liebesobjekt sucht, nach einer Krankenschwester mit Schmetterlingsbrille, deren Auftauchen den Leser auch libidinös jedes Mal wieder mit dem Buch versöhnt.

          Ach, gäbe es doch noch mehrere solcher Schmetterlingsbrillen in Abes Roman! Ach, labte sich unser braver Angestellter doch einmal von mehr als Curryreis oder Waffelfisch mit Bohnenmus! Und: Ach, hätte Abe doch auf seine Kresse-Idee ganz verzichtet, um sich ganz den Känguruhnotizheften zu widmen! HANNS-JOSEF ORTHEIL

          Kobo Abe: "Die Känguruhhefte". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Jürgen Stalph. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1996. 189 S., geb., 34,- DM.

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