Rezension: Belletristik : Mein Text so kurz
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Keine Lust, keine Zeit: Javier Marías erzählt / Von Florian Illies
Von Javier Marías, dem vielgerühmten spanischen Romancier, ist in diesem Frühjahr ein merkwürdiges Buch erschienen. Dabei hatte der Verlag wahrscheinlich gedacht, er habe alles richtig gemacht: Der Titel "Als ich sterblich war" nimmt das dumpfe Shakespeare-Pathos der erfolgreichen Bücher "Mein Herz so weiß" und "Morgen in der Schlacht denk an mich" auf, die Fotografie auf dem Titelbild, Horst P. Horsts legendäres Schnürkorsagenbild von hinten, verkörpert den geschlechterübergreifenden Grundkonsens von Sinnlichkeit - und ist offenbar eine erste zarte Wiedergutmachung des Stuttgarter Verlages an seinem Bestsellerautor, der in den Jahren zuvor jeweils mit dem häßlichsten Schutzumschlag des an häßlichen Schutzumschlägen nicht armen Programms bei Klett-Cotta eingewickelt wurde. Diesmal also: Meine Korsage so weiß oder: Morgen in der Vertreterversammlung denk an mich.
Auch war wohl von den Nachttischen der Republik zum Verlag die Kunde gedrungen, daß sich zwar viele Leser von Marías zu Gängen durch die undurchdringlichen Schächte der Erinnerung und des Sehnervs verführen ließen - aber nur die wenigsten, ausdauerndsten kamen an. Da war es nicht mehr weit bis zu diesem Kurzstrecken-Marías. Zwölf Geschichten von 1991 bis 1995, mit den bekannten Themen: Liebe, Ritter, Tod und Teufel. Man ahnt, was die Hoffnung war: Die Rezensenten sollten schreiben - und die Leser dann denken: "Hier ist der große Romancier als Meister der kleinen Form zu entdecken." Doch nichts davon. Dieser Band mit Erzählungen ist eine Enttäuschung.
In unangehmer Ehrlichkeit schildert uns der Autor im Vorwort, wie es dazu kam. Alle Texte, so erklärt Marías hier, waren Auftragsarbeiten: "Drei Seiten hier, zehn Seiten da, etwas über vierzig dort, die Anforderungen sind sehr unterschiedlich, und man versucht ihnen, so gut es geht, gerecht zu werden." Ein ernüchternderes Bild des erfolgreichen Schriftstellers als Verwalter seiner Imagination und Buchhalter seiner Erinnerung hat man selten lesen können. Meist sei ihm, so schreibt Marías, das Thema vorgegeben worden, der Umfang ohnehin, einmal wurden ihm, wie bei einem Stegreifdichter, sogar die zentralen Begriffe (Meer, Ungeheuer, Tier) genannt. Das nennt er zwar, in einer Fußnote, "eine chinesische Folter", doch er unterläßt den Hinweis, warum man sich als Leser für eine ganz und gar verquere Geschichte interessieren soll, der man auf jeder Zeile die chinesischen Qualen des Autors ansieht.
Natürlich kann man es keinem Autor vorwerfen, sich aus Gründen des Broterwerbs und der spezifisch spanischen Tradition den Wünschen der Zeitungsredakteure zu beugen. Doch es mag sich beim deutschen Leser nicht die rechte Ernsthaftigkeit einstellen, wenn er lesen muß, daß etwa die Erzählung "Geringere Skrupel" ohne größere Skrupel für dieses Buch "erweitert wurde (in diesem Fall um etwa fünfzehn Prozent)". Aber diese Irritation mag auch mit der Tatsache zusammenhängen, daß man mit der Form der Literatur als Dienstleistung, die in Spanien auch für die größten Dichter des Landes gang und gäbe ist, wenig vertraut ist. Wer sich an solcherlei Dingen störe, der habe, so schreibt Marías vorsorglich an den deutschen Leser, "puristische Klischees" im Kopf. Nun ja.
Marías' Romane zeichnet ein ganz spezifischer Rhythmus aus, das Pendel der Erzählung hat eine besonders lange Flugbahn, die Bücher haben Sinnlichkeit, Spannung, Bildung. Vor allem haben sie ein Geheimnis. So lange wird hier der Bogen gespannt, ohne daß der Pfeil abgeschossen wird, daß man sich irgendwann vergißt und nur noch für die Muskelkraft interessiert, die das Spannen ermöglicht, und für die träge Seelenruhe, die das Loslassen verhindert. In seinen Erzählungen jedoch, "drei Seiten hier, zehn Seiten da", hat Marías für solche Prozeduren keine Zeit mehr. Hier wird geschossen, daß einem die Pfeile um die Ohren zischen.