Rezension: Belletristik : Materialisten im Sonnenstudio
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Die Wirklichkeit nach Lenin und danach: Viktor Pelewins Roman "Buddhas kleiner Finger" / Von Eberhard Rathgeb
Viktor Pelewin gehört zu den erfolgreichen Schriftstellern seiner Generation. Sein letzter Roman erschien in Rußland im Jahr 1996 und liegt nun auf deutsch vor. Der Originaltitel lautet übersetzt "Tschapajew und Pustota". Der deutschen Ausgabe wurde ein Vortrag beigefügt, den Viktor Pelewin 1998 im Centre Pompidou gehalten hatte. Der Vortragende ging der Frage nach: "Wer war Wassili Tschapajew? Oder: Der Mythos vom Feldkommandeur".
Man sollte das Nachwort als ein Vorwort lesen. Tschapajew war ein Feldkommandeur der Roten Armee, der später dank der unzähligen Witze, die über ihn und seinen Gehilfen Petka kursierten, berühmt wurde. Tschapajew gelang der Sprung aus der Geschichte in die sowjetische Mythologie. Aber Tschapajew ist nicht nur ein Held im Witz, sondern auch im Film und im Roman.
Einen Roman über ihn schrieb Dimitri Furmanow, Tschapajews Politkommissar. Er setzte dem Mann, unter dem er litt, weil seine Ehefrau mit dem Feldkommandeur ein Verhältnis hatte, ein Denkmal im Stil des sozialistischen Realismus. Der zweite Roman über Tschapajew trägt den Titel "Buddhas kleiner Finger". Pelewin dreht das Verhältnis von Geschichte und mythologischer Figur um. Er zieht den mythologischen Schleier vor Tschapajew beiseite, nicht um einen säbelschwingenden Grobian zu zeigen, sondern einen buddhistischen Meister.
Es war der erste Jahrestag der russischen Revolution, und ein kalter Wind fegte durch die Straßen Moskaus. Auf dem Twerskoi-Boulevard bot Petka dem Schnee die Stirn. Er stammte aus St. Petersburg und war ein Dichter. Auch wenig revolutionär gestimmte Dichter finden zum Menschen. Petka stieß auf Grigori von Ernen. Die beiden kannten sich aus Kindertagen und aus den Petersburger literarischen Salons. Petka ging mit Grigori nach Hause. Das hätte er bleibenlassen sollen. Nicht nur die russische Geschichte folgt einer geheimen Gesetzmäßigkeit. Grigori arbeitete für die Tscheka, die russische Geheimpolizei. Petka erzählte, daß er mit einem Gedicht angeeckt war. Da merkte der andere, daß er einen Fang gemacht hatte. Er zückte die Pistole. Doch hinter dem Sieg lauert die Niederlage. Dialektisch ist alles. Petka ist zwar nur ein subversives Element, und es ist ein subversives Element ein Nichts vor der russischen Revolution. Aber das subversive Element setzte sich durch. Petka gewann die Oberhand und die Pistole. Er erwürgte Grigori. Dichter können, wenn sie wollen, mit den Händen arbeiten. "Die Dinge existieren unabhängig von unserem Bewußtsein, unabhängig von unserer Empfindung, außer uns; denn es ist unbestreitbar, daß Alizarin auch gestern im Kohlenteer existierte, und es ist ebenso unbestreitbar, daß wir gestern von dieser Existenz nichts wußten und keinerlei Empfindungen von diesem Alizarin hatten." Das schrieb der ruhmreiche Führer der ruhmreichen russischen Revolution, Lenin. Petka landet in der Irrenanstalt, wo alle Russen landen, die nach der Revolution glauben, daß die Dinge, zum Beispiel die schlechte Versorgungslage, unabhängig von unserem Bewußtsein existieren. Die Ärzte therapieren den vorrevolutionären Materialismus mit dem nachrevolutionären Idealismus. Lenin ist tot. Leicht wird man bei diesen unsicheren philosophischen Verhältnissen verrückt.