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Rezension: Belletristik : Kleiner Ui, was nun

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Thorsten Beckers Deutschstunde / Von Hubert Spiegel

          3 Min.

          Thorsten Becker war eine literarische Hoffnung der alten Bundesrepublik. Er debütierte mit einer Erzählung über deutsch-deutsche Verhältnisse, als außer Martin Walser kaum ein Autor über dieses Thema nachdenken wollte. Das war 1985. Als die Mauer gefallen und Deutschland wiedervereinigt war, begab sich Thorsten Becker auf ausgedehnte Reisen in die halbe Welt, auf denen er tapfer über die Verhältnisse in der Heimat nachdachte. Sehr viel ist dabei aber nicht herausgekommen, obwohl die beiden letzten Bücher Beckers, das "Tagebuch der arabischen Reise" und die Textsammlung "Mitte", zusammen über achthundert Seiten umfaßten. In Erinnerung bleibt immerhin das paradoxe Bild eines Erzählers, der sich mit nichts mehr Mühe gibt und dabei stets ungeheuer angestrengt wirkt. Zuletzt hatte Thorsten Becker neue Reisepläne verkündet: "Ich gehe nach Berlin, in die Mitte." So lautete der letzte Satz von "Mitte". Das war vor zwei Jahren.

          Dort angekommen, begab sich Becker schnurstracks in die Kantine des Theaters am Schiffbauerdamm, des BE, der alten Brecht-Budike. Zwei Jahre später kam er wieder heraus, bleich und etwas unsicher auf den Beinen, aber mit einem Romanmanuskript unterm Arm. Das Buch heißt "Schönes Deutschland" und spielt, zumindest in seinem besseren Teil, in der Kantine des Berliner Ensembles. Vom Rest reden wir lieber später.

          Am Berliner Ensemble probt man gerade Brechts "Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui". Regie führt Fritz Meier, der mit Brechts Bronzedenkmal konferiert, eine Schwäche für Zigarren und Whisky hegt und soeben seinen Nebenbuhler Giovanni Rinconi losgeworden ist. Beckers Erzähler darf die Hauptrolle übernehmen, obwohl Brechts Standbild Einwände vorbringt, die sich nicht so ohne weiteres vom Tisch wischen lassen: ",Ich denke', sagte Brecht mit einem Räuspern, das erklärte, woher Fritz Meier das seinige hatte, ,dem Darsteller des Arturo Ui, das heißt der Hitlerfigur, sollte man einige Grundkenntnisse der Politik abverlangen dürfen.'"

          Heiner Müller heißt bei Thorsten Becker also Fritz Meier, Peter Zadek ist Giovanni Rinconi und Bernhard Minetti Oliver Panetti. Wolf Biermann und Nina Hagen, Gysi, Stolpe, Thierse und Udo Lindenberg dürfen ihre Namen behalten. Der Bundeskanzler ist "der Bundeskanzler", tritt aber erst gegen Ende des Romans in Erscheinung. Zunächst gehört das Feld nämlich Erich Honecker, der gar nicht tot ist, sondern aus Chile zurückkehrt, auf dem Flughafen Tegel landet, die Landebahn küßt und unverzüglich die Wiedererrichtung der DDR ausruft. Wenig später erwarten achthunderttausend Menschen Honeckers Rede vor dem Reichstag. Der Westen hält "überraschenderweise still". Thierse, Stolpe und Biedenkopf gehören zum Kabinett der "ersten Regierung der zweiten Ära Honecker".

          Für Beckers Erzähler, hinter dem unverkennbar der Schauspieler Martin Wuttke steckt, Müllers Nachfolger am BE und sein Arturo Ui von 1995, bringt die Rückkehr des alten Regimes einige Probleme mit sich. Er ist zwar nicht sonderlich helle, fühlt sich aber zum Mittler berufen, da er "vom Westen die Herkunft und vom Osten die Argumente hatte". Auch würde er einerseits gern eine "wehende Fahne" tragen und einmal im Leben eine "heldenhafte Reaktion" zeigen, "nicht auf der Bühne, sondern hier im Leben". Andererseits will er aber den Ui spielen und sich keine Karrierechancen entgehen lassen, "nur weil die Regierung wechselt".

          "Die Regierung", so erklärt Beckers Ich-Erzähler seiner aus dem Osten stammenden Freundin Kerstin, "ist nicht das Theater. Die Regierung ist draußen in der Wirklichkeit. Hier drinnen, in der imaginierten Welt, im Theater, da sind nur wir. Hier ändert sich nichts." Aber Kerstin will nicht wieder in der DDR leben und flieht in den Westen. Ui/Wuttke hinterher. Und jetzt, weitab von Bühne und Kantinen, beginnt der Teil des Buches, von dem man lieber noch später reden möchte.

          Denn nun weitet Becker seine Kantinenklamotte und Liebesschmonzette zum geschichtsphilosophischen und medienkritischen Entwurf. In beiden Teilen des Landes erweist sich das Fernsehen als alles beherrschende Kraft. "Um nicht dem Schicksal der ersten, untergegangenen DDR zu erliegen, wurde in der zweiten das Westfernsehen selbst gemacht." Während Volker Schlöndorff in Babelsberg Bilder produziert, die den Einmarsch der Serben in München zeigen, wird im Westen, einem Polizeistaat wie aus einem Albtraum des "deutschen Herbstes", die Geschichte der DDR kurzerhand zur Seifenoper erklärt. Nach dem 17. Juni 1953 habe es die DDR nur noch als Fernsehserie gegeben. Wer etwas anderes behauptet, wird interniert und einer Gehirnwäsche unterzogen. So liegt es nahe, daß sich Ui/Wuttke und seine Kerstin in der Irrenanstalt wiedersehen. Die Flucht im Hubschrauber des Bundeskanzlers gelingt, weil beide im Fernsehen gesehen haben, wie man so etwas macht.

          Aber damit nicht genug. Denn Becker hat um seinen Kantinenschlüsselroman und seine "Konterkonterrevolutions"-Satire eine Rahmenhandlung gebaut, die im Jahr 2045 spielt. Europa ist zwischen Brasilien und China aufgeteilt worden, die Grenze zwischen den beiden Supermächten verläuft quer durch das ehemalige Deutschland, dessen Bild von einer in Mexiko ansässigen "romantischen Schule" europäischer Geschichtsschreibung verklärt wird. Gegen diese Schule setzt Beckers Erzähler seine Erinnerungen, in altfränkischem Tonfall, gestelzt und zuweilen recht unbeholfen. Die Idee zu diesem Roman stammt zwar gewiß aus der Kantine des BE, aber der Souffleur heißt Frank Castorf und gehört zu einem anderen Theater. Und dort, an der Volksbühne, könnte man sich Beckers "Schönes Deutschland" auch auf dem Theater vorstellen. Nicht als "Kleiner Ui, was nun?", die große Deutschland-Revue, die Becker im Sinn hatte, sondern als "Pension Müller", das kleine Dramolett über eine Bühne, von der es im Roman einmal heißt: "Man war in diesem Theater mehr Staat als im eigentlichen Staat."

          Thorsten Becker: "Schönes Deutschland". Roman. Verlag Volk und Welt, Berlin 1996. 186 S., geb, 34,- DM.

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