Rezension: Belletristik : Im Wortgefängnis
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Michael Hamburgers Holocaust-Gedichte · Von Harald Hartung
Als seine Familie im November 1933 Berlin verließ, hatte der neunjährige Michael Hamburger gerade begriffen, daß er sich beim Völkerball in die "jüdische" Gruppe einzureihen hatte. Die Emigration nach England zerstörte ihm die frühe Einheit der Dinge und Worte. Vielleicht war es aber dieser Riß, der Hamburger zum Dichter machte - zu einem englischen Dichter. Aber sein erstes veröffentlichtes Gedicht schrieb er über Hölderlin; und das im Kriegsjahr 1941. Es eröffnet noch heute seine "Collected Poems".
Zwanzig Jahre später, als Eichmann in Jerusalem der Prozeß gemacht wurde, muß dieses Ereignis bei Michael Hamburger das Gefühl erneuert haben, der Vernichtung entronnen zu sein. Er schrieb in der Folge drei Gedichte zum Thema des Holocaust. Das erste und längste, das fünfteilige "In a Cold Season", formuliert bereits in seiner Eingangszeile das Problem der literarischen Darstellung des Schreibtischtäters Eichmann: "Words cannot reach him in his prison of words." Oder in der deutschen Fassung von Peter Waterhouse: "Mit Worten unerreichbar in seinem Wortgefängnis."
Das Gedicht arbeitet sich an diesem Paradox ab, indem es die Stilebenen trennt. Deportation und Mord erscheinen im Blankvers, der dem Leid einen Rest von Würde bewahrt. Die Figur des mörderischen Bürokraten wird ironisch-sachlich im Freivers dargestellt: "Eichmann Adolf, Staatsbeamter (im Ruhestand): / Ein milder Mann, gewissenhaft auf seine Weise, / Gegner von Gewalt / Und anderer Verstöße / In seinem Beisein ausgeführt".
Hamburger weiß, daß solche Mimesis des Banalen den Kern des Problems nicht berührt. Er begreift, daß die "Schale", die ihn von der Wahrheit trennt, mit Worten nicht zu zerbrechen ist. Das einzige Reimpaar im sonst reimlosen Gedicht zieht die Summe dieser Erkenntnis: "Und bin für seine ganze Wahrheit nicht bereit: / Vielleicht sein Innerstes ist die Unwirklichkeit."
Aber wo der Gedanke scheitert, ist die Poesie noch nicht verloren. Gegen Eichmanns innerste Unwirklichkeit setzt sie die lebendige Erfahrung. Sie verbürgt eine Wahrheit, die dem Menschen zugänglich ist. Hier ist es die Biographie des Emigranten, aus dessen Familie viele ermordet wurden. So hat der Dichter dem Poem von der kalten Jahreszeit etwas sehr Persönliches eingefügt, nämlich die Erinnerung an seine von den Nazis deportierte Großmutter. Sie hatte die Gefahr unterschätzt, war in Berlin geblieben und bezahlte so ihre Arglosigkeit mit dem Leben. Zweimal nennt der Dichter sie "guileless", also "arglos". Wenn Waterhouse formuliert: "Nur daß die Liebende starb", geht diese historische Pointe verloren.
Die beiden später entstandenen Gedichte "Treblinka" (1967) und "Between the Lines" (1968) sind Rollengedichte. Die lyrische Persona tritt für die fehlende direkte Erfahrung ein. Hamburger schrieb "Treblinka" nach dem Bericht eines Überlebenden, den das englische Fernsehen gesendet hatte. "Zwischen den Linien" folgt einem Gefängnistagebuch. Hier triumphiert das Opfer über seine Peiniger, indem es den Moment seines Todes als Befreiung antizipiert. So lebt die Poesie von dem Paradox, daß die Toten fähig sind "Licht zu geben" - zwischen den Linien, aber auch zwischen den Zeilen; wie es der Doppelsinn des englischen Titels nahelegt.
Wichtig also, daß diese drei Gedichte nun in einem kleinen Band zusammengefaßt sind. Peter Waterhouse setzt damit die verdienstvolle Folge seiner Hamburger-Editionen fort. An den Schluß hat er - quasi als nachgereichten Schlüssel - einen Essay des Dichters gesetzt, der unter dem Titel "Entdämonisierung: Realisierung" die Darstellbarkeit des Bösen in der Literatur reflektiert. "Eichmanns Wahnsinn war kein Fall von Besessenheit, sondern von Leere", diese Quintessenz, die Hamburger aus der Lektüre von Hannah Arendts berühmtem Buch gezogen hat, steht bereits in seinen Gedichten.
Michael Hamburger: "In einer kalten Jahreszeit". Gedichte. In einer Übersetzung von Peter Waterhouse. Zweisprachige Ausgabe. Folio Verlag, Wien / Bozen 2000. 58 S., br., 20,50 DM.