Rezension: Belletristik : Im Schrebergarten der Lüste
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Wenn man sich vorstellte, die Buchbranche würde ebenso in die Krise geraten wie das Konzept der Ferienclubs vor einigen Jahren, dann würde man auch in Programmkonferenzen großer Verlagshäuser auf Typen wie Lindsay Lagarrigue treffen: um die Dreißig, Stirnglatze und im Nacken zusammengebundenes Haar. Lagarrigue ...
Wenn man sich vorstellte, die Buchbranche würde ebenso in die Krise geraten wie das Konzept der Ferienclubs vor einigen Jahren, dann würde man auch in Programmkonferenzen großer Verlagshäuser auf Typen wie Lindsay Lagarrigue treffen: um die Dreißig, Stirnglatze und im Nacken zusammengebundenes Haar. Lagarrigue trägt eine "Adidas-Jogginghose, ein Prada-T-Shirt und ausgetretene Nikes" und sieht also so aus, wie man sich Konsumverhaltenssoziologen vorstellt. In Michel Houellebecqs neuem Roman ist dieser Lagarrigue eine blasse Nebenfigur, ein Blender, der für seinen großzügig honorierten Vortrag vor den leitenden Angestellten eines Touristikkonzerns aus seiner Aktentasche nur ein paar Diagramme und einen Zeitungsartikel hervorholt. Doch der Eindruck täuscht: In Wahrheit hält der phrasendreschende Konsumforscher in diesem Buch die Fäden in der Hand. Denn "Plattform" ist eine Geschichte vom käuflichen Glück und vom Glück des Kaufens, von der Schnäppchenjagd der Liebe, die gern in exotischen Ländern unternommen wird.
Da es sich dabei wie immer bei Houellebecq um einen Thesenroman handelt, muß auch der Autor ein paar Folien aus der Tasche ziehen: Er führt beiläufig verschiedene Modelle der Konsumforschung an, die etwa von der rationalen Bedürfnisbefriedigung des Käufers unter Berücksichtigung des Preises ausgehen (Marshall), den Einfluß der Gruppe auf den Kaufprozeß analysieren (Veblen) oder auf der Gefühlsreaktion basieren, die ein Produkt oder eine Serviceleistung beim Verbraucher auslöst (Holbrook und Hirschman). Und es gibt das Modell, das Konsum grundsätzlich nur unter seiner Funktion für sexuellen Erfolg betrachtet (Houellebecq). Wozu also kauft man ein Buch wie "Plattform"?
"Ich holte mir ernsthaft einen runter und versuchte mir, Mulattinnen nachts in winzigen Badeanzügen vorzustellen. Mit einem Seufzer der Befriedigung ejakulierte ich zwischen zwei Buchseiten. Sie würden wohl zusammenkleben; na ja, es war eh kein Buch, das man zweimal las." Hier ist immerhin die Rede von einem echten Grisham, mit dem sich der Erzähler Michel während seines Thailand-Urlaubs am Strand unterhält. Michel ist ein alleinlebender, frustrierter Angestellter des Kulturministeriums in der Houellebecq-üblichen, aus reduzierter sexueller Chancengleichheit erwachsenden Midlife-Crisis, der Sextourismus zu schätzen weiß. Nachdem er seine unbefriedigende Reiselektüre befriedigt im Sand vergraben hat, richtet sich sein Baggern auf die weiblichen Teilnehmer der Rundreise. Dabei lernt er die ungewöhnlich offene und selbstbewußte Valérie kennen, eine erfolgreiche Karrieristin in der Touristikbranche, die, zurück in Paris, seine Freundin wird. Nicht nur erfüllt die fleischgewordene Männerphantasie ihm fortan alle sexuellen Wünsche; der Zyniker Michel erfährt mit ihr ein spätes, unverhofftes Glück.
"Plattform" legt gleich zu Beginn einen riskanten Vergleich nahe. Der erste Satz des Romans lautet: "Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben", es folgt die Schilderung der Beerdigung und der Regelung der Formalitäten. Dem Vater, einem sportlichen Rentner, wurde vom Bruder seiner jungen nordafrikanischen Haushaltshilfe, mit der er ein Verhältnis hatte, im Affekt der Schädel eingeschlagen. "Heute ist Mama gestorben" - so beginnt Albert Camus' Roman "Der Fremde", auch hier folgt die Schilderung eines Begräbnisses, bei dem sich der Sohn wie bei Houellebecq weigert, den Leichnam noch einmal zu sehen.