Rezension: Belletristik : Die Unglücksuhr
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Ernst Weiß erzählt von Jarmila · Von Sabine Brandt
Die Novelle "Jarmila" von Ernst Weiß begegnet ihren Lesern gleich in zwei Ausgaben, die eine bei Vitalis in Prag, die andere bei Suhrkamp in Frankfurt erschienen. Beide Verlage nehmen das Recht der editorischen Erstgeburt für sich in Anspruch. Vitalis macht geltend, das Typoskript des Werks, sechs Jahrzehnte lang verschollen, sei im "Památn´k Národního Pisemnictv´" (Gedenkstätte des nationalen Schrifttums) der Universität zu Prag wiederaufgefunden worden, was für einen deutschsprachigen Prager Verlag Freude und Verpflichtung zugleich bedeute. Suhrkamp wiederum kann auf beachtlichen Einsatz für das Werk des Autors verweisen: Immerhin hat der Verlag bisher sechzehn Bände Gesammelte Werke von Ernst Weiß herausgebracht.
Wer den solideren Anspruch darauf hat, das Wort Erstausgabe vom Einband leuchten zu lassen, muß den Leser nicht unbedingt kümmern. Vielmehr darf er sich freuen, gleich in zwei Nachworten mit Wissenswertem versorgt zu werden, betreffend die Entstehungsgeschichte der Novelle, die Lebensgeschichte des Autors und beider historischen Hintergrund. Dominique Fliegler in der Prager und Peter Engel in der Frankfurter Ausgabe geleiten uns durch die europäischen Katastrophenjahrzehnte dieses Jahrhunderts, verlieren aber beide leider kein Wort darüber, wie das Werk vom Entstehungsort Paris in das Prager Institut gelangte und warum es so lange im dunkeln blieb.
Ein bißchen Vineta-Stimmung weht aus den Druckzeilen, liest man von den Ursprüngen des Dichters Ernst Weiß: 1884 in Brünn geboren, aufgewachsen in Wien und Prag, von Beruf Arzt. Weiß folgte aber seiner Berufung, dem Schreiben, bevor noch sein kriegführender Kaiser ihm medizinischen Einsatz an der Ostfront abverlangte. Weiß' erstes Buch erschien 1913, erstaunlich viele folgten, Romane, Erzählungen, dramatische Szenen, Gedichte, Essays.
Weiß war ein Schüler Sigmund Freuds, ein Freund Franz Kafkas, ein Verehrer Stefan Zweigs, Bindungen, die sich durchaus in seinem Schaffen niederschlugen. Aber stärker noch walteten als Vorbilder Fjodor Dostojewski und Arthur Schnitzler. Mit Vorliebe porträtierte und analysierte Weiß den von seinen Trieben bestimmten Einzelmenschen und dessen oft verquältes Verhältnis zu Familie und beruflicher Einordnung. Nicht durchweg errang der Autor den Beifall seiner Zeitgenossen, doch gewann er 1928 den Literaturpreis der Olympiade in Amsterdam und 1930 den Adalbert-Stifter-Preis der Stadt Prag. Nur wenige Jahre später wurde Europa eng für den Vielgereisten. Deutschland, in dessen Städten Berlin und München er oft und gern geweilt hatte, verschloß sich ihm, dann Österreich, zuletzt die Tschechoslowakei. Weiß ging nach Paris, wo er, verarmt, vereinsamt, krank, von den Almosen jüdischer Hilfskomitees leben mußte. Im Juni 1940, als die deutsche Wehrmacht in Paris einmarschierte, verübte er Selbstmord.
Weiß hatte auf die Hitlerbarbarei mit seinem Roman "Der Augenzeuge" aggressiv reagiert. Demgegenüber liest sich sein letztes Werk, die Novelle "Jarmila", auf den ersten Blick so, als habe er den Vernichter Europas nicht wahrgenommen. Freilich nur auf den ersten Blick, denn inmitten der dramatischen Entwicklungen und Verwicklungen um die Frau Jarmila und ihren Liebhaber Bedrích taucht unversehens der Begriff "Grenzen" auf und verbreitet, je öfter er erwähnt wird, um so mehr Bedrückung und Düsternis. "Grenzen", das steht für Einschnürung, wachsende Feindseligkeit, Bedrohung. Man darf sich nicht davon täuschen lassen, wenn das Ambiente der Novelle der Welt vor Hitlers Erscheinen ähnelt. Nur scheinbar verliert sich der Autor in einen rückwärtsgewandten Traum, in Wahrheit skizziert er einen tief verstörten Frieden, über dem das Menetekel dräut. Die Menschen in diesem kranken Frieden hat Weiß mit messerscharfem Stichel modelliert, alle sind mehr oder weniger Knechte ihrer Triebe, arm an Orientierung und an Erbarmen füreinander. Sie verkörpern, nimmt man es genau, die geeignete Personnage für ein totalitäres Verführungs- und Vergewaltigungstheater.