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Rezension: Belletristik : Der Spion, der aus der Kirche kam

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Omertà und Cosa Nostra, Rote Brigaden, Opus Dei und P2 - Italien ist ein Land, reich an Geheimbünden und verschworenen Gemeinschaften, und vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb Sandro Veronesi mit seinem Roman "La forza del passato" - zu deutsch: "Sein anderes Leben" - in seiner Heimat zum Bestsellerautor avancierte.

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          Omertà und Cosa Nostra, Rote Brigaden, Opus Dei und P2 - Italien ist ein Land, reich an Geheimbünden und verschworenen Gemeinschaften, und vielleicht ist dies einer der Gründe, weshalb Sandro Veronesi mit seinem Roman "La forza del passato" - zu deutsch: "Sein anderes Leben" - in seiner Heimat zum Bestsellerautor avancierte. Veronesi erzählt die Geschichte eines Kinderbuchautors, der während einer nächtlichen Taxifahrt mit der Tatsache konfrontiert wird, daß sein Vater in Tat und Wahrheit Russe, Kommunist und KGB-Agent war und nicht der General, der fleißige Kirchgänger, der Christdemokrat und Andreotti-Freund, als der er ihn kannte.

          Der Schock sitzt tief. Das Leben des jungen Mannes gerät aus den Fugen. Jede Erinnerung erscheint auf einmal trügerisch. Zweifel nisten sich ein. Wem kann er noch glauben, wem vertrauen? Dem Taxifahrer, der in Wirklichkeit keiner ist? Seiner Mutter, die die Maskerade mitmachte? Sich selbst und seinen Gewißheiten, die plötzlich keine mehr sind? Gianni Orzan wird die Wahrheit nie erfahren. Sein Vater ist kurz vor dem nächtlichen Zusammentreffen im Taxi gestorben und hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.

          Wenn der Ich-Erzähler sich nach Tagen quälender Selbsterforschung, nach einem Verkehrsunfall und der Erkenntnis, daß ihn seine Frau betrügt, dazu entschließt, dem falschen Taxifahrer und angeblichen Freund seines Vaters Glauben zu schenken, ist das seine freie Wahl. Was der Vater wirklich war, russischer Spion oder Stütze der italienischen Gesellschaft, ist auf einmal nicht mehr so wichtig. Er war sein Vater, das ist das einzige, was zählt. Daß ihn seine Frau betrogen hat, tut zwar weh, aber sie ist seine Frau, er hat ein Kind mit ihr, und er weiß, daß er sie liebt.

          Das Leben des Kinderbuchautors Gianni Orzan wird nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus weitergehen wie zuvor. Seine Frau kehrt zu ihm zurück. Er nimmt seine Schreibarbeit wieder auf. Seine Mutter weiß jetzt zwar, daß er weiß, aber gesprochen wird darüber nicht mehr. Wichtig ist nicht, was ist, sondern was wir daraus machen. Sandro Veronesis Roman "Sein anderes Leben" ist kein Thriller ohne Auflösung, sondern die Geschichte einer Identitätskrise. Und diese hatte lange vor den nächtlichen Enthüllungen mit Selbstzweifeln, mit einer Schreibblockade, mit einem allgemeinen Lebensüberdruß ihren Anfang genommen. "Ich weiß nicht, ob ich noch der bin, der ich zu sein glaube", heißt es schon ganz am Anfang des Romans. Die Einsicht, daß auch der übermächtige Vater nicht der war, der er zu sein vorgab, platzt da hinein und wirkt wie ein Katalysator, der die Krise ihrem Höhepunkt und schließlich ihrer Katharsis zutreibt.

          Daß nichts so ist, wie es scheint, und keiner der, als der er sich ausgibt, daß ein jeder sein kleines oder größeres Geheimnis mit sich herumträgt und lügt, auch wenn er nichts davon hat - im Grunde eine Binsenwahrheit, die weder so neu noch so einzigartig ist, daß es sich lohnte, so sollte man meinen, einen ganzen Roman darüber zu schreiben. Und doch hat Sandro Veronesi es getan, und wir sind ihm atemlos dabei gefolgt.

          Es ist nicht die Geschichte an sich, die dieses Buch so faszinierend macht. Es ist die Art und Weise, wie sie uns erzählt wird: rasch, leicht, witzig, voller Selbstironie, direkt, unprätentiös, in einem wie selbstverständlich daherkommenden Plauderton, als säßen wir mit dem Autor in einem römischen Café und er ließe uns wissen, was ihn gerade bewegt. Im Grunde besteht das Buch aus einem einzigen inneren Monolog, einer Geschichte, wie zu sich selbst gesagt, ohne nachträgliche Deutung. Die Interpretation der Geschehnisse bleibt dem Leser überlassen. Und der läßt sich tragen und mitnehmen auf diese Erkundungsfahrt durch ein fremdes Selbst, das auch sein eigenes sein könnte. Was wissen wir von unseren eigenen Eltern, unseren Partnern, Freunden, Kindern? Was wissen wir letztlich über uns selbst?

          Eine Antwort hat Sandro Veronesi nicht zu bieten. Nur Fragen, nur Zweifel, nur Ungewißheiten. Aber - und das macht den Reiz seines schwerelosen Erzählens aus - er bietet sie so dar, daß sie auszuhalten sind. Denn am Ende geht es uns wie dem Ich-Erzähler: Russischer Vater hin oder her, er ist, der er ist, und das ist gut so.

          KLARA OBERMÜLLER

          Sandro Veronesi: "Sein anderes Leben". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Bruno Genzler. C. Bertelsmann Verlag, München 2001. 254 S., geb., 40,- DM.

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