Rezension: Belletristik : Der Mann, der brennt
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William Gaddis fälscht die Welt · Von Joachim Kalka
Die Verständigung darüber, welches die maßgebenden, die klassischen Autoren einer Epoche sind, ist nie völlig abgeschlossen, und es gibt manchmal noch nach zweitausend Jahren überraschende Revisionen. Und die Herausbildung eines Gegenwartskanons von besonders verehrten zeitgenössischen Autoren ist noch viel prekärer, die Phalanx ist instabil. Seit seinem großartigen Buch "JR", das 1975 erschien, hat William Gaddis zumindest die Anwartschaft auf den Status des kanonisch modernen Autors. Damit sind sämtliche Texte dieses Schriftstellers von größtem Interesse - und im Falle Gaddis gab es lange Zeit so etwas wie ein umrauntes Geheimnis: das erste, selbst im amerikanischen Buchhandel lange verschollene Buch "The Recognitions", das Urwerk aus dem Jahre 1955, das, von der Kritik der Hemingway-Ära gleichgültig verrissen, dem Autor das öffentliche Vergessen ("I've been posthumous for twenty years") und bei einer kleinen, radikalen Gemeinde von Lesern die Reputation des Underground-Klassikers eingetragen hatte. Im "Schreibheft", das als entschiedenster Bannerträger Gaddis' in Deutschland aufmarschiert ist, hat Bernd Klähn schon vor Jahren Auszüge aus "The Recognitions" veröffentlicht, und Marcus Ingendaay, der sich mit der nun unter dem Titel "Die Fälschung der Welt" erschienenen eindrucksvollen Übersetzung einer stupenden Mühe unterzogen hat, hatte dort ebenfalls schon vor einiger Zeit über seine Arbeit berichtet.
Viele Verlage - nicht zuletzt Zweitausendeins - haben sich angewöhnt, soeben erschienene und der Öffentlichkeit noch ganz unbekannte Werke bereits mit konspirativem Appell an die Sehnsucht jener Leser, die vor allem Insider sein wollen, als "neue Kultbücher" zu feiern. Gaddis' Erstling dagegen hat sich diesen Titel ehrlich verdient: Begeisterte Fans haben den Ruf eines nicht erhältlichen Buches verbreitet. Man hat auf die deutsche Übersetzung - die italienische und die französische erschienen bereits 1967 und 1973 - vielerorts lange gewartet. Jetzt tritt der sagenumwobene Text aus seiner Höhle vor das deutsche Publikum. Und? Nun denn: Der erneute Blick auf dieses heilige Monstrum der amerikanischen Gegenwartsliteratur ist eine große Freude. Selbst da, wo der Leser von Gaddis enttäuscht ist (hierzu gleich mehr), muß er einräumen, daß es eine Enttäuschung auf allerhöchstem Niveau ist.
Das Buch ist großartig und irritierend. "Die Fälschung der Welt" ist ein enzyklopädisch-barocker Roman (an die 1250 Seiten) mit einem sehr ehrgeizigen philosophisch-ästhetischen Programm, einem ironisch-passionierten Verwirrspiel mit den letzten Fragen von Kunst und Religion, einer Unzahl von Figuren in raffiniert verknüpften Beziehungen und einem ungeheuerlichen Requisitenapparat. Die wechselnden Schauplätze - insbesondere die schmerzhaft dicht beschriebene Enge von Greenwich Village mit seinen allesamt gnadenlos scheiternden Künstlerexistenzen - und die Vielzahl der Bücher, Bilder, Alltagsdetails, Zitate sind bei Gaddis natürlich nicht Teil eines traditionellen Versuchs, Wirklichkeit mimetisch zu simulieren und in großem, realistischem Griff dem Leser "die" Welt zu schenken. Der Roman gehört bereits entschieden zu den Unternehmungen, die mit hohem, reflektiertem sprachlichem Aufwand eine eigene Welt der Literatur konstruieren. Und die Unmöglichkeit des wirklich originär künstlerischen Schaffens, das Labyrinth von "Wiedererkennung", Fälschung, Plagiat und alchimistischer Verwandlung ist das aus allen Richtungen angesteuerte und umkreiste Zentralthema des Romans wie auch der raffinierte Doppelsinn von "to forge" im Englischen - "fälschen" und "schmieden", "erschaffen", mit einem wagnerisch-joyceschen Echo.