Rezension: Belletristik : Charmantes Unglück
- Aktualisiert am
James Salters Roman "Lichtjahre" · Von Hubert Spiegel
James Salter ist ein furchtloser Erzähler. Er hat einen Hang zu mißlungenen Sätzen und schiefen Bildern. Er neigt zum Klischee und ist von einschüchternder Ausdauer, wenn es darum geht, seine Figuren in immer neuen Anläufen zu beschreiben. Besonderen Ehrgeiz legt er in die Beschreibung von Frauen. Das klingt zum Beispiel so: "Seine Frau war eine einsame Stute auf einer Weide. Sie wartete auf den Wahnsinn und graste ihr Leben dahin". Oder so: "Sie war intelligent, das war das Besondere an ihr. Sie konnte Dinge aufnehmen, verstehen. Unter ihrem Kleid hatte sie, wie er wußte, nichts an; deBeque hatte ihm das erzählt." James Salter ist von einer Furchtlosigkeit, die von Skrupellosigkeit nicht immer leicht zu unterscheiden ist.
"Lichtjahre" gehört zu den erfolgreichsten Romanen der letzten Zeit. Die deutsche Literaturkritik wollte in diesem Buch, das erst ein knappes Vierteljahrhundert nach seinem ersten Erscheinen ins Deutsche übersetzt wurde, nahezu einhellig ein "Meisterwerk" erkennen und hat seinen Autor, der 1925 als Sohn eines Ingenieurs und Grundstücksmaklers in einem der besseren Viertel New Yorks geboren wurde, als späte Entdeckung gefeiert. Der Roman soll "kühl und klar" sein wie "ein Vorfrühlingstag in Vermont", aber auch "lyrisch und bildhaft"; "elegisch" ebenso wie "lakonisch", "bilderflirrend" und "präzise". Salter ist von der deutschen Kritik gepriesen worden für "immer neue Bilder und Vergleiche, die einen in die Knie zwingen" und für die Kunstfertigkeit, mit der er seine Figuren als Teile der Natur zeigt, die sie umgibt. Im Roman liest sich das zum Beispiel so: "Ihr Haar duftet nach Blumen. Der Tag ist windstill. Die Sonne steht noch unklar im Dunst, der Fluß glänzt von Licht".
Man liest dieses Buch über viele Seiten mit gesträubten Nackenhaaren. Mitunter ziehen einem Salters Sätze den Mund zusammen wie Zitronensaft, dann wieder rufen einzelne Passagen jene klebrige Trockenheit des Gaumens hervor, die übermäßiger Genuß von Schokolade oder Konfekt hinterläßt. Tatsächlich ist dieser Roman wohl am ehesten mit einem Konfekt zu vergleichen, das alles zugleich sein soll: süß und bitter, leicht und schwer, flüchtig und intensiv. Das kann nur eine Geschenkpackung leisten.
"Lichtjahre" oder "Leichte Jahre", wie die Übersetzung des Originaltitels "Light Years" auch lauten könnte, ist 1975 in den Vereinigten Staaten erschienen. Der Roman hat sich kaum verkauft, vielleicht weil er zur falschen Zeit erschien. Er spielt in den Jahren zwischen 1958 und 1977 und schildert den Zerfall einer Ehe, die als Musterehe gilt und es zunächst auch ist: Viri, eigentlich Vladimir, Architekt und Nachkomme russischer Einwanderer, und Nedra, eine aus der Heimat geflohenene Kleinstadtschönheit, leben in einem wunderschönen alten Haus in der Nähe New Yorks. Sie haben zwei intelligente, hübsche Töchter, einen gutmütigen Hund, dessen braunes Fell des Morgens das "brennende Licht" der amerikanischen Ostküste "trinkt" und viele Freunde, die warmherzig, geistreich und zuverlässig sind und gerade soviel Neid zeigen, wie man an seinen Freunden schätzt. So geht es etliche Jahre, in denen Nedra ein Verhältnis mit einem libanesischen Hausfreund hat und Viri eine nicht sehr lang andauernde Affäre mit seiner Sekretärin.
Die Kinder werden größer, die Träume, ein bedeutender Architekt zu werden, verblassen, Viris Haar wird schütter, Nedra bekommt Fältchen um die Augen. Aber im Grunde ändert sich nichts an diesem Ostküsten-Idyll. Die Kinder bleiben wohlgeraten, die Freunde geistreich und zuverlässig, man kann nicht einmal sagen, daß sich Viri und Nedra auseinandergelebt hätten. Anders als viele seiner amerikanischen Schriftstellerkollegen, die schöne Mittelstandsfassaden errichten, um darin Leere, Lügen und Heuchelei hausen zu lassen, hat Salter für Nedra und Viri ein solides Haus mit massiven Mauern gebaut, hinter denen keine schäbigen kleinen Geheimnisse bewahrt werden und nichts Böses vorgeht. Nichts hat sich im Laufe ihrer Ehe zwischen Nedra und Viri gedrängt. Fast nichts, außer der Zeit. Und so lautet die einzige Erkenntnis, die Folgen für ihr Leben hat, daß vor dem Alter nur die Jugend schützt, die ihnen mit jedem Tag entflieht.