Rezension : Alles Bruch: Martin Brinkmanns lakonisches Roman-Debüt
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Bild: DVA
Martin Brinkmanns Debüt „Heute gehen alle spazieren“ ist die Skizze einer Umbruchssituation, ein beeindruckendes Seelenbild mit einfachsten Mitteln.
Immer häufiger kommen Väter in den Büchern jüngerer Autoren als Abwesende vor. Als Abwesende aber sind sie sehr präsent. Hinter dieser Degradierung der Familienoberhäupter scheinen nicht einmal richtige Konflikte zu lauern. Auch ein revoltierender Geist lässt sich da kaum herbeifantasieren. Nein, sie werden einfach beiseite geschoben.
Man sollte das einmal als sozialpsychologisches Phänomen näher untersuchen. Erzeugt der unausgetragene Vater-Sohn-Konflikt nicht einen Phantomschmerz, der die jungen, männlichen Helden an einer grundsätzlichen Sinnlosigkeit leiden lässt? Ist da eine Jugend ohne satisfaktionsfähige Väter herangewachsen? Taugen die heutigen Väter weder als Tyrannen noch als simple Statisten im Familienspiel?
Der Ich-Erzähler in Martin Brinkmanns Debüt „Heute gehen alle spazieren“ durchleidet eine tiefe Lebenskrise: Ihm stirbt der Vater weg, und das ganze Buch erscheint wie ein melancholischer Trauergesang auf die damit entschwundene Jugend, eine elegische Durchwanderung jenes schwebenden Zustands zwischen verstehen Wollen und handeln Müssen. Ein sehr zeitgenössisches, möglicherweise auch völlig zeitloses Gefühl.
Effektvoll einfach
Der lakonische Grundton des Romans ist durchaus erstaunlich, wenn man sich unter jungen Debütanten und angehenden literarischen Popstars umschaut. In manchen Passagen zeigt Brinkmann ein genaues Gespür für das effektvoll Einfache. Erzählt wird nicht viel: Ein junger Mann, der gerade den Zivildienst beendet und ein Studium vor sich hat, verbringt einige Tage zu Hause bei den Eltern. Der Vater, schwer krank, stirbt bald darauf. Das Leben erscheint fortan ereignislos.
Das Zusammentreffen mit der ehemaligen Geliebten ist eher deprimierend, die Reise an den Studienort endet zunächst einmal in einem Freibad, auch das weniger eine Entscheidung als vielmehr ein unentschlossenes Getriebensein: „Vielleicht ist es doch keine so gute Idee gewesen, hierherzukommen. Alles wird sich dadurch unendlich in die Länge ziehen. Ich weiß nicht mal, ob später noch ein Zug geht.“ Es ist diese unbestimmte Empfindung, die jugendliche Helden entweder in die Lethargie treibt oder zu Aufrührern macht. Wie es weitergeht, steht bestenfalls in den Sternen. Nach ein paar Bier, denkt sich der Ich-Erzähler irgendwann, sieht die Welt doch ganz anders aus. „Und wirklich sieht sie anders aus, leichter, perspektivischer, allerdings nicht so, als gäbe es, wie man leichthin sagt, für irgend etwas eine Perspektive, sondern als würde man durch die perspektivisch sich verschiebenden Schaufenster, Häuserecken und -dächer geschoben, in dieser klaren, kalten Göttinger Studentenluft.“
Nah am Wasser
Der Ich-Erzähler döst dahin, er ist nicht einmal auf der Suche nach Sinnangeboten oder Abenteuern. Wie unter einer diesigen Glocke sitzt er da, fast bewusstlos werden ihm die Wochen vom Lebenskonto abgebucht. Immer wieder treibt es ihn ans Wasser - ans Meer, ins Schwimmbad, in die Erinnerung an eine Weserüberquerung mit dem Vater - als könnte darin vielleicht das Ich sich spiegeln oder das Leben ein wenig in Fluss geraten. Dezent gesetzte Todesahnungen fließen in die unspektakuläre, aber absolut bedrängende Atmosphäre. „Also ging ich hoch auf den weißen, trockenen Sand, sah, wie die Düne ins Bild wuchs, ebenso der weite Strand, Schaufeln und Eimerchen - hier sollte man mit einem Sterbenden einen letzten Spaziergang am Wasser machen, sein fahler, nur noch knochenschöner Schädel im blauen Licht am Meer.“ Wenige Seiten später formen sich weitere Bilder für diese Verlorenheit: „Da war ein Containerschiff, da, knochenschädelschön, der Sterbende, seine unglücklichen Stapfer im weichen Sand, ein bleicher Spaßverderber von Junge, knapp im Wasser stehend. Junge Frauen, Mutter und Kind. Alles Bruch.“
Stimmungsskizze aus dem Nichts extrahiert
Brinkmanns Buch lebt von seiner atmosphärischen Dichte. Die gestrandete Figur wird präzise eingefangen. Die Geschichte selbst ist freilich eine, die wohl jeder 25-Jährige erzählen würde, der als Mittelschichtskind aufgewachsen ist und eigentlich nichts erlebt hat. Nicht jeder kann daraus aber eine solch gelungene Stimmungsskizze extrahieren. Bleibt noch die Frage, was mit den Vätern der jungen Männer los ist. Aber das kann warten.