Raoul Schrott/Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht : Der Reim kann bleim
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Raoul Schrott und Arthur Jacobs rücken in einem neuen Buch der Poesie mit der Neurowissenschaft zu Leibe. Wir baten einen Dichter um sein Urteil.
Nehmen wir den „Grüffelo“, die „Fantastischen Vier“ und einen Poetry Slam. Was kann man an ihnen und ihrer Wirkung studieren? Dass rhythmische Sprache auf uns als körperliche Wesen wirkt. Oder, wie es der empirische Psychologe Arthur Jacobs und der Dichter Raoul Schrott sagen: Sprache und Literatur folgen „Bedingtheiten, die auf unserer Sensomotorik und den Parametern unserer Wahrnehmung beruhen“. Bei Stefan Remmler (“Keine Sterne in Athen“) hieß es: „Der Rhythmus, wo ich immer mitmuss“.
Warum brauchen wir ein fünfhundertseitiges Buch zum Thema „Gehirn und Gedicht“? Weil es uns vorführt, dass an die Stelle der Spekulation die Messung getreten ist. Auf literarisch-geisteswissenschaftliche Kreise wirken Bilder von Gehirnen, neben denen Sätze stehen wie „Abbildung 63 zeigt Hirnaktivierungen von Jazzmusikern, die bei Stings polyrhythmischem ,The Lazarus Heart' zuerst auf den Haupttakt (120 Schläge/Minute) hören und diesen mitklopfen mussten“, immer noch irritierend. Man wittert eine Biologisierung der Kunst. Werden ästhetische Leistungen in einem solchen Denken nicht auf ziemlich triviale Funktionen reduziert?
So einfach sollte man es sich mit der Ablehnung nicht machen. Denn erstens kann ein wenig Neugier nie schaden, zweitens ist das Verfahren, Poetik auf empirischer Grundlage zu betreiben, wahrlich nicht neu (Aristoteles begründet die ästhetische Nachahmung mit der Beobachtung von Kindern), und drittens führen die Experimente, die Raoul Schrott und Arthur Jacobs vorstellen, eben nicht zu Verallgemeinerungen, sondern differenzieren unser Wissen.
Ein festes Pfund in der Hand
Zum Beispiel: Die Reaktion auf rhythmisierte Sprache ist biologisch verankert. Ist sie damit bei allen Menschen gleich, spielen kulturelle Unterschiede keine Rolle? Dazu wird ein Experiment der Psychologin Sandra Trehub erläutert, in dem sie Studenten aus verschiedenen kulturellen Herkunftsräumen Musikstücke von unterschiedlicher Komplexität vorspielte. Die Ergebnisse sprechen dafür, „dass die Verarbeitung von rhythmischen Strukturen im Gehirn zu Beginn des Lebens sehr flexibel ist und erst durch jahrelange Gewöhnung an bestimmte Taktstrukturen eine Umorganisation im Gehirn stattfindet, so dass fast nur noch die gewohnten Rhythmen wahrgenommen und ästhetisch bevorzugt werden“. Das zeigt: Kunst wird hier nicht in einen Körperkäfig eingesperrt. Das Fundament mag biologisch sein, aber dann beginnt die Zivilisation ihr Werk, verzweigen sich die Wege und entwickeln Kulturen ihre ästhetischen Modelle, die in den Körper einziehen.
Für einen Lyriker ist dieses Buch reizvoll. Fragen nach der Zukunft des Gedichts kann er nun noch gelassener beantworten. Wenn schon Säuglinge in der Lage sind, den Wechsel von unbetonten und betonten Silben lustvoll wahrzunehmen, dann haben Dichter ein festes Pfund in der Hand. Sie werden aber auch daran erinnert, dass es keine gute Idee wäre, die ihnen gegebenen Wirkungsmöglichkeiten leichtfertig aufzugeben. Wenn Raoul Schrott und Arthur Jacobs den Rhythmus zur wichtigsten Eigenart lyrischer Rede erklären: Warum sollte man darauf verzichten?