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Patrick Modianos neuer Roman : Suchanzeige aus der Vergangenheit

24 Bücher, zwölf Preise, siebzig Jahre: Patrick Modiano in Paris, wo auch sein neuer Roman spielt. Bild: Frank Röth

Literarische Verwirrspiele eines Nobelpreisträgers: Patrick Modiano schenkt uns zu seinem siebzigsten Geburtstag ein neues Buch. In „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ bleiben viele Fragen kunstvoll unbeantwortet.

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          „Fast nichts“: Patrick Modianos neuer Roman beginnt lakonisch, und rätselhaft ist auch der Titel „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“. In Paris, wo das Buch spielt, war es gerade ausgeliefert worden, als sein Verfasser mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Eigentlich handelt es sich mehr um eine Erzählung als um einen Roman, wie bei Modiano oft. Der Einstieg ist keine Gebrauchsanweisung für den Leser, sondern eine Anspielung auf einen Insektenstich, von dem man „fast nichts“ spürt - und der gleichwohl sein Gift im ganzen Körper verströmt.

          Jürg Altwegg
          Freier Autor im Feuilleton.

          Es wirkt umgehend. Leser, die mit Modianos Werk vertraut sind, fühlen sich auch in diesem Buch bereits nach wenigen Takten zu Hause. Der Schriftsteller setzt ganz auf das unvergleichliche und verstörende Ambiente seiner Literatur, in dem man sich diesmal allerdings mehr als in früheren Werken zu verlieren droht. Die vielen genau bezifferten Adressen, die das Buch enthält, sind zunächst das einzige Koordinatensystem einer zerfaserten Handlung, die auf verschiedenen zeitlichen Ebenen verläuft. Sie besteht aus der Suche nach einer Figur, die so undeutlich bleibt wie das Motiv der Recherchen, und beginnt mit dem Verlust eines Adressbuchs, in dem ihr Name verzeichnet ist.

          Eine Ersatzmutter und spätere Geliebte

          Jean Daragane ist nicht mehr ganz jung; ein Schriftsteller, der kaum noch schreibt. Vor einem Monat hat er sein Adressbuch verloren. Wahrscheinlich ist es ihm entwendet worden. Denn der unheimliche Finder Gilles Ottolini ist mit Daraganes Leben und Werk bestens vertraut. Er sucht nach einem Guy Torstel. Dieser Name steht in Daraganes Adressbuch. Daragane hat ihn auch für eine Figur in seinem Erstling „Das Schwarze des Sommers“ verwendet, weiß aber überhaupt nicht mehr, worum es in diesem Roman geht. Er liest nur noch Buffons „Naturgeschichte“.

          Als „weich und bedrohlich“ empfindet der Schriftsteller Ottolinis Stimme am Telefon. Er hat das Gefühl, es mit einem Erpresser zu tun zu haben. Ottolini kommt mit Chantal Grippay zur Übergabe. Über die Affäre, bei deren Aufklärung er sich Daraganes Hilfe erhofft, hat er ein Dossier zusammengestellt. Chantal bringt es ihm in einer Nacht vorbei. Sie kommt von einer Soiree, an der sie im Auftrag Ottolinis teilnahm; eine Arbeit, für die sie bezahlt wurde. Daragane kennt das Kleid, das sie trug. Auch Fotokopien aus seinem Roman finden sich unter den Akten. Es geht um den ungeklärten Mord an Colette Laurent, die in einem Pariser Nachtklub arbeitete und „Umgang mit den Studenten der Kunsthochschule“ pflegte. Colette hatte, wie aus Ottolinis Dokumenten hervorgeht, regelmäßig ein Haus in der Banlieue besucht, in dem „eine gewisse Annie Astrand“ wohnte: Das zumindest steht in den Protokollen der Polizei, die das Haus offensichtlich überwachte. Annie Astrand war für Jean Daragane eine Ersatzmutter und wurde später vermutlich seine Geliebte.

          Durch die Maschen des Netzes

          In Patrick Modianos literarischem Universum liegen das Wesen und die Wahrheit der Menschen ausschließlich in ihrer Vergangenheit. Doch diese entzieht sich, je mehr man sich ihrer zu bemächtigen, ja überhaupt nur anzunähern sucht. Auf verworrenen Pfaden kehrt sie wie zufällig, jedenfalls völlig unkontrollierbar ins Bewusstsein zurück. Ein Name löst Erinnerungen aus, vergessene Orte tauchen aus dem Nebel auf. Der Schriftsteller Daragane hatte „nie verstanden, wie man einen Menschen, der für einen gezählt hat, zu einer Romanfigur machen konnte. Sobald er in den Roman geschlüpft war, so, wie man durch einen Spiegel tritt, entzog er sich einem für immer.“ Ein Buch schreiben bedeutete für ihn auch, „Blink- oder Morsezeichen auszuschicken an gewisse Personen, von denen er nicht wusste, was aus ihnen geworden war“. An anderer Stelle bezeichnet er seinen Roman „Das Schwarze des Sommers“ als „Suchanzeige“.

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          Auch die Schilderungen der Gegenwart kommen wie aus einer anderen Zeit. Keineswegs nur als anachronistischen Fremdkörper empfindet man etwa die eineinhalb Seiten der Erzählung, auf denen sich Jean Daragane einer Internet-Suchmaschine bedient. Schon die Handys von Chantal und Ottolini sind eine atmosphärische Störung, Daragane hat immerhin einen Anrufbeantworter. Google erschließt ihm nur die Gewissheit, dass der leibhaftige Ottolini eine virtuelle Existenz führt. Ansonsten bleiben die Anfragen erfolglos: „Die wenigen Personen, auf deren Spuren er gerne gekommen wäre, hatten es geschafft, sich der Überwachung durch dieses Gerät zu entziehen. Sie waren durch die Maschen des Netzes geschlüpft, weil sie einer anderen Zeit angehörten und weil sie keine Chorknaben waren.“ Auch „von seinem Vater, den er kaum gekannt hatte, im Computer“ keine Spur. Im Falle von Annie Astrand wurde er auf „falsche Fährten“ gelockt: „Personen dieses Namens häuften sich in der Stadt Göteborg.“

          Gerne hätte man einige Antworten bekommen

          „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ hatte Annie ihm in altmodischer Schrift zu ihrer Adresse auf ein doppelt gefaltetes Blatt geschrieben. „Sie hatte seinen Roman ,Das Schwarze des Sommers‘ gelesen und eine Episode aus eben jenem Sommer wiedererkannt. Warum sonst hätte sie ihm schreiben sollen? Doch wie hatte sie seine vorübergehende Adresse herausbekommen?“ Den Roman hatte er tatsächlich geschrieben, um ein Lebenszeichen von ihr zu bekommen, ihren Namen aber nicht verwendet und auch die Spuren verwischt. In einer Episode hatte sich Annie Astrand erkannt. Im Halbschlaf vernimmt der Schriftsteller ihre Stimme: „Beim Aufwachen, in diesem Zimmer, wurde ihm bewusst, dass er fünfzehn Jahre gebraucht hat, um die Straße zu überqueren.“

          Man sollte diesen Roman nicht zum Triumph der Literatur über das Internet hochstilisieren. Er kommt zu einem durchaus plausiblen Schluss, der hier nicht verraten werden soll. Die Vergangenheit ist in diesem Werk Modianos nicht mehr der Krieg, sondern es sind die fünfziger und sechziger Jahre, die Zeit von Modianos eigener Jugend in Paris. Trotzdem bleibt das, was einst war und geschah, hier noch unfassbarer als in früheren Büchern des Schriftstellers. Dem mit seinem Leben und Werk vertrauten Leser drängen sich dafür umso mehr mögliche autobiographische Zusammenhänge auf. Ein bisschen frustriert bleibt man am Schluss dennoch zurück. Zu viele Figuren und Motive sind auf der Strecke geblieben. Und gerne hätte man auf zumindest einige der Fragen, die die Handlung aufwirft, doch noch eine Antwort bekommen.

          Gewohnt gelungen ist die Übersetzung von Elisabeth Edl. Ihr „In-der-Scheiße-Wühler“, als den Daragane einmal Gilles Ottolini bezeichnet, wird sich in der deutschen Rezeption von französischer Literatur durchsetzen. Hierzulande erscheint der neue Roman des verdienten Nobelpreisträgers aus Anlass seines siebzigsten Geburtstags, den Patrick Modiano an diesem Donnerstag feiert.

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