: Ornament und Zechen
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Wonach riecht ein Genie? Für Lea Singer ist die Antwort eindeutig: Arnold Schönberg riecht ganz einfach "nach Mann"; bei dem jungen und rebellischen Maler Richard Gerstl hingegen sind die olfaktorischen Reize komplexer, verströmt er doch neben allen männlichen Ausdünstungen zugleich einen Geruch nach Lavendelwasser und Terpentin.
Wonach riecht ein Genie? Für Lea Singer ist die Antwort eindeutig: Arnold Schönberg riecht ganz einfach "nach Mann"; bei dem jungen und rebellischen Maler Richard Gerstl hingegen sind die olfaktorischen Reize komplexer, verströmt er doch neben allen männlichen Ausdünstungen zugleich einen Geruch nach Lavendelwasser und Terpentin. Kann man es da Schönbergs - angeblich reizloser - Gattin Mathilde verdenken, daß sie sich von ihrer Nase leiten läßt und Hals über Kopf eine Affäre mit dem duftenden Maler beginnt?
So triebgesteuert soll es in Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts zugegangen sein, wenn man Lea Singers Roman - es ist der zweite der unter einem Pseudonym schreibenden Autorin - Glauben schenken soll. Längst bekannte Skandalgeschichten der Wiener Avantgarde werden auf kleiner Flamme neu aufgewärmt, insbesondere natürlich die erotischen Verstrickungen berühmter Maler, Schriftsteller und Komponisten. Wie sie lieben, nicht, was sie tun, interessiert unsere Erzählerin; Zusammenhänge zwischen beidem bestehen offenbar kaum. Alma Mahler, die schöne Frau des Hofoperndirektors, verdreht immer noch und immer wieder allen Männern den Kopf; Peter Altenberg gelüstet es trotz viriler Schwäche nach blutjungen Mädchen, Adolf Loos sieht großzügig über die Eskapaden seiner Gattin hinweg, und Schönberg "mit seinen wulstigen Lippen" wälzt sich nach jedem Konzert schwitzend und keuchend auf die apathische Mathilde. Künstlerleben hautnah - und beklemmend, wenn man bedenkt, was für Karikaturen großer Künstler hier entstanden sind und welch diffamierenden Mustern sie ähneln.
Es ist zweifellos verführerisch, das Leben der Berühmten aus nächster Nähe zu betrachten und der respektvollen Bewunderung die intime Perspektive des Alltäglichen hinzuzufügen. Lea Singer jedoch hat sich bei ihren Szenen aus dem Wiener Leben, die angeblich auf Fakten beruhen, allein auf die voyeuristische Schlüssellochperspektive konzentriert und wird nicht müde, immer neue Details aus dem Intimleben ihrer Helden zu erfinden. Mit durchaus sicherem Blick für spannungsvolle Effekte inszeniert sie die fortschreitende Entfremdung zwischen Schönberg und seiner sensiblen Frau, die schließlich Mann und Kinder verläßt, um für einige Monate bei dem jungen Maler zu leben. Was wiederum den ehrgeizigen Richard Gerstl ausgerechnet zu der unattraktiven Mathilde treibt, bliebe ein Rätsel, wenn man die Welt durch Lea Singers Brille betrachtete. Die Verzweiflung, die den von der Wiener Gesellschaft mißachteten Maler schließlich zur Selbsttötung führt, ist eine plakative Behauptung.
Schwülstiger Erotik-Kitsch wird zur bestimmenden Stillage: "Zum ersten Mal in ihrem Leben greift Mathilde, bevor ein Mann sie berührt, mit ihrer kleinen geschickten Hand ihm ins Zentrum seiner Lust. Und er spürt, daß sie noch nie so hungrig war und ihre Feuchtigkeit nie so heiß wie dieses Mal." Ein feuchtes Klischee reiht sich an das andere, so daß man sich beim Lesen immer stärker nach Formstrenge der Wiener Moderne sehnt, von der in diesem Roman so wortreich die Rede ist.
Aber auch originell kann Lea Singer sein, und sie ist es mit ausgesuchter Peinlichkeit. So stellt sie ihre Mathilde sehnsüchtig ans Fenster, "nackt und barfuß", wobei ihr Schamhaar, wie an anderer Stelle zu erfahren ist, "den Umriß von Zypern" hat - in welche Himmelsrichtung auch immer sich diese Haarpracht erstrecken mag. Nicht nur hier hat die Autorin die von Adolf Loos zur künstlerischen Maxime erhobene Ablehnung des Ornaments großzügig ignoriert. Den Jargon unserer Tage verlegt sie unbekümmert in das Wien der vorletzten Jahrhundertwende. So können sich ihre Künstlerhelden auf Partys nach Herzenslust "zudröhnen".
Da versteht man endlich, warum die Wiener Künstler sich von der überladenen Formensprache des 19. Jahrhunderts abwandten und nach neuen Ausdrucksformen suchten, in der Musik ebenso wie in der bildenden Kunst und der Literatur. Lea Singers Roman hätten sie wohl alle schnell aus der Hand gelegt.
SABINE DOERING
Lea Singer: "Wahnsinns Liebe". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 240 S., geb., 19,90 [Euro].