Neue Bücher von Édouard Louis : Ausbruch nicht mehr ausgeschlossen
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Édouard Louis im Oktober 2017 auf der Frankfurter Buchmesse Bild: Picture Alliance / Jan Haas
Methodenfragen eines ehedem Unterprivilegierten: Édouard Louis begibt sich mit seinem aktuellen französischen Buch auf neue Wege. Das jüngst übersetzte Buch gibt einen Vorgeschmack.
Zu viel habe er erlebt, schon mit Mitte zwanzig mehrere Leben hinter sich. In der Kindheit schickten ihn die Eltern oft zu den Nachbarn, um ein Paket Nudeln und ein Glas Tomatensoße zu erbetteln, weil der Familie nicht erst am Monatsende das Geld ausging. Später schlief er mit Männern, deren Sofa mit Polarbärenfell überzogen war und die ohne mit der Wimper zu zucken Hunderte Euro teure Weinflaschen öffneten. Kaum ein Buch hatte er in seiner Jugend gelesen, wird als junger Erwachsener aber in die renommierteste Universität des Landes aufgenommen.
So schildert Édouard Louis in seinem neuen, noch nicht übersetzten Buch „Changer: méthode“, wie sich das Durchqueren unterschiedlicher Welten anfühlt, das für einen „transfuge de classe“ wie ihn typisch sei. Das Konzept, aus dem sich in Frankreich seit Pierre Bourdieus „Soziologischem Selbstversuch“ von 2002 ein ganzes literarisches Genre entwickelt hat, beschreibt den sozialen Aufsteiger als Deserteur, als Verräter seiner Herkunft. Louis nimmt den Begriff aufs Wort und erzählt von einem Protagonisten, der davon getrieben ist, erfolgreich und berühmt zu werden, um sich so an einer verhassten Kindheit und den vielen inmitten von Armut, Gewalt und Homophobie erlittenen Erniedrigungen zu rächen.
Auf diesem Weg spielen einander ablösende Bezugspersonen eine zentrale Rolle, die ihm jeweils neue Welten eröffnen und radikale Selbstveränderungen anstoßen. Durch Imitation versucht sich der Protagonist ganz den neuen Milieus anzupassen, die den ersehnten Bruch mit der Herkunft versprechen. So etwa an Elena und ihre kultivierte bürgerliche Familie, der im Buch große Bedeutung zukommt – nimmt sie den besten Freund der Tochter doch gleichsam als neues Mitglied bei sich auf. In ihrem Haus lauscht er sich die literarischen Referenzen ab, mit denen er bald seine eigenen Reden zu schmücken beginnt, übt vor dem Spiegel stundenlang ein neues, verhalteneres Lachen und akzentfreies Sprechen ein. Die Akkulturation in neue Milieus, das Erwerben eines neuen Habitus wird dabei auch zum Erwerb eines neuen Körpers, dem seine Vergangenheit noch im überschüssigen Fettgewebe und den ungepflegten Zähnen steckt, die der Protagonist durch Sport und ästhetische Eingriffe beseitigt.
Doch in gleichsam methodisch sich wiederholendem Ablauf kommt es immer wieder zum Bruch, wird eine Bezugsperson von der nächsten abgelöst, wird das neue Leben wieder zum Verhängnis. So weit ihn auch die Flucht trägt, in den neuen Milieus kommt er nicht an, fühlt er sich nicht zugehörig und nicht glücklich, sodass die Flucht zur nicht enden wollenden Odyssee wird. Noch der literarische Shootingstar, der im Intellektuellenmilieu der Pariser rive gauche angekommen ist und für Vorträge und Lesungen um die Welt jettet, zeigt sich vom neuen Leben erst beeindruckt, dann angewidert und flüchtet in die Vereinigten Staaten, um wochenlang ziellos durch Mittelstädte zu irren.
Louis beschreibt so aufs Neue seinen Weg vom tristen Heimatdorf Hallencourt im entindustrialisierten französischen Norden über die Lycée in Amiens bis zur École Normale Supérieure in Paris. Damit mag es zunächst so scheinen, als ob der Titel nur eine weitere Episode der soziologisch-autobiographischen Forschungen in erzählerischer Form ist, die Louis mit seinem Erstling „En finir avec Eddy Belleguelle“ (deutsch „Das Ende von Eddy“) 2014 begann und damit Epoche machte und später mit „Histoire de la violence“ („Im Herzen der Gewalt“) von 2016 und „Qui a tué mon père“ („Wer hat meinen Vater umgebracht“) von 2018 fortführte – Texten, die auch diesseits des Rheins viel Anklang fanden und gegenwärtig zu den meistgespielten Stoffen auf deutschsprachigen Theaterbühnen zählen (F.A.Z. vom 7. Oktober 2021).