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: Mein Bruder, der Wüstling

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Bei Jean-Jacques Rousseau entfährt selbst dem gutmütigen Leser irgendwann ein Seufzer: Die Gabe, so auf die Nerven zu gehen, ist selten! Selbstgerechtigkeit und Verfolgungswahn des Autors, Tugend- und Gefühlsergüsse der Figuren, über allem die ewige Natur-Anbeterei - Rousseau trägt dick auf. Ähnlich ...

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          Bei Jean-Jacques Rousseau entfährt selbst dem gutmütigen Leser irgendwann ein Seufzer: Die Gabe, so auf die Nerven zu gehen, ist selten! Selbstgerechtigkeit und Verfolgungswahn des Autors, Tugend- und Gefühlsergüsse der Figuren, über allem die ewige Natur-Anbeterei - Rousseau trägt dick auf. Ähnlich muss es Stéphane Audeguy gegangen sein, und er hat aus diesem Gefühl einen Roman gemacht: "Das Leben des François Rousseau, von ihm selbst erzählt" bringt den älteren Bruder gegen den Dichter und Denker in Stellung. François Rousseau setzt Jean-Jacques' etwas schwerfälliger Suche nach Wahrheit, Tugend, Authentizität ein bekennend mittelmäßiges, geistreiches, sinnenfrohes Lotterleben entgegen, das ihn vom heimatlichen Genf nach Paris führt, wo er in Hurenhäusern Karriere macht. Er nimmt teil am Gesellschaftsleben und wählt das Lager der materialistischen "philosophes", jener Aufklärer aus dem Umfeld von Diderot und d'Alembert, mit denen der Jüngere sich überworfen hat. Nun erzählt François als Greis sein Leben.

          Die Wege von seinem Bruder trennen sich früh endgültig, Audeguy hält sich in dieser Hinsicht an das wenige, was Rousseau in den "Bekenntnissen" berichtet. Grund ist das schlechte Verhältnis zwischen François und seinem Vater, der Jean-Jacques jedoch verhätschelt. Dem Kleinen bekommt es nicht, er wird zum überspannten Zärtling. Jean-Jacques liest sentimentale Romane und spielt mit dem Vater Familienrührszenen, die an die zwischen Jean-Paul Sartre und seinem Großvater in "Die Wörter" erinnern, während François sich in der Gosse prügelt. Er liebt die Freiheit und entwickelt eine hedonistische Lebenshaltung: Von der mütterlich geprägten, inzestuösen Kindheit an ist er ein Mensch des sexuellen Genusses.

          Das ist das Hauptthema des Romans, variiert durch die Homosexualität des Comte de Saint-Fonds, intellektueller Lehrer des Knaben, und ausgeführt an zahlreichen Liebschaften. François macht aus der Neigung einen Beruf: Eine Uhrmacherlehre vermittelt ihm das handwerkliche Geschick, um die Lustmaschinen eines Pariser Bordells reparieren zu können. Der Witz des Romans besteht nicht im Gegenentwurf allein: Die Zukunftsfähigkeit Rousseaus wird zähneknirschend anerkannt. François überlebt den Bruder und sieht, dass der Überempfindliche historisch recht behält: In der Revolution werden ihm höchste Ehren zuteil, aber auch die tugendwütige Schreckensherrschaft kann sich auf ihn berufen. Bezeichnend ist die Neuerzählung einer Episode der "Bekenntnisse", in der man Rousseau des Diebstahls beschuldigte - ein Unrechtserlebnis, kommentiert von François: "Du warst der Erste, der auf den Gedanken kam, derart unbedeutende Kleinigkeiten seien es wert, berichtet zu werden; der Erste, der im Mannesalter so etwas berichtete, der dem sonderlichen Protest eines gemeinen Sterblichen Gehör verschaffte."

          Vieles ist nach dem Forrest-Gump-Prinzip gearbeitet: Der Held trifft alle möglichen Berühmtheiten und wird prompt am 14. Juli 1789 aus der Bastille befreit. Schließlich entwickelt sich Audeguys Fabulierlust aber zum lauwarmen Selbstläufer. Dabei wäre aus dem Thema mehr zu machen gewesen.

          NIKLAS BENDER

          Stéphane Audeguy: "Das Leben des François

          Rousseau, von ihm selbst erzählt". Roman.

          Aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth

          Ranke. SchirmerGraf Verlag, München 2007.

          304 S., geb., 19,80 [Euro].

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