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Mary Ann Shaffer: „Deine Juliet“ : Willkommen im Club

  • -Aktualisiert am

Bild: Verlag

Erbauungslektüre der britischen Art: Mary Ann Shaffer erzählt von den „Guernseyer Freunden von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf“.

          3 Min.

          Am vergangenen Freitag erhielt ich ein Päckchen mit einem Buch. Es kam nicht von einem Verlag, sondern von einem meiner längsten und liebsten Freunde. Eigentlich, so schrieb er, habe er es aus naheliegenden Gründen zwar aufgegeben, mir noch Bücher zu schenken, aber seine Mutter habe ihm diesen „zauberhaften“ und „altmodischen“ Roman ans Herz gelegt, der mittlerweile auch seine Frau und ihn entzückt habe. Nun muss man wissen, dass „zauberhaft“ nicht gerade zum regulären Komplimentwortschatz dieses Freundes gehört und dass es sich bei seiner Mutter und seiner Frau weder um altmodische noch um leicht zu bezaubernde Damen, sondern um Leserinnen von in jeder Hinsicht beträchtlichem Urteilsvermögen handelt. Trotzdem war ich beunruhigt.

          Ich packte das Buch aus. Auf dem Umschlag das kitschige Bild eines alten Koffers, aus dem undefinierbare Kleidungsstücke herausquellen. Der schnörkelig gesetzte Titel - „Deine Juliet“ - sagte mir nichts, den Namen der Verfasserin - Mary Ann Shaffer - hatte ich nie zuvor gehört. Das Autorenfoto zeigte eine weißhaarige und gebräunte Dame mit Perlenkette und strahlendem Lächeln, die als siebzigjährige, in Kalifornien lebende „ehemalige Buchhändlerin und Bibliothekarin“ ausgewiesen wurde. „Deine Juliet“ sei ihr erster Roman. Dies waren, Buchhändlerinnen und Bibliothekarinnen mögen es mir nachsehen, keine vertrauensfördernden Informationen. Meine Bestürzung wuchs, als ich die Wortwahl meines Freundes im Klappentext wiedererkannte, der von einem „warmherzigen Liebesroman“ raunte, „anrührend, amüsant und im besten Sinne altmodisch“.

          Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf

          Für einen Aprilscherz war es noch zu früh. Also nahm ich das Buch mit nach Hause und begann zu lesen. Nach fünfzehn Seiten fragte ich im Archiv an, ob das Buch, was ich für extrem unwahrscheinlich hielt, je besprochen worden war. Ein Treffer, immerhin: ein Lob in der „taz“ vom Mai 2008. Nach fünfzig weiteren Seiten rief ich in der Buchhandlung an und bestellte fünf Exemplare. Die Sorge, dass es sich einfach nur um einen munteren Einstieg handeln und sich das Ganze doch noch als Schmarren herausstellen könnte, verließ mich um Seite 100 herum. „Deine Juliet“ ist kein literarisches Meisterwerk, aber ein Kleinod, ein wunderbares, tatsächlich bezauberndes Buch, genauer: ein Briefroman.

          Im Januar 1946 erhält die Londonerin Juliet Ashton, eine kesse englische Journalistin von Anfang dreißig, die gerade mit der Buchveröffentlichung ihrer beliebten „Spectator“-Kolumne aus Kriegszeiten Furore macht, ein Schreiben von der Kanalinsel Guernsey. Ein gewisser Dawsey Adams bittet sie, ihm eine Buchhandlung in London zu empfehlen: Er möchte gern weitere Werke von Charles Lamb bestellen. Ihre Adresse hat er in einem antiquarisch erworbenen Exemplar von Lambs „Ausgewählten Essays“ gefunden, die ihn während der deutschen Besatzung zum Lachen gebracht hätten. Dann erwähnt der Schreiber den Club der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf.

          Wehmut über Briefe

          So kommt eine Korrespondenz in Gang, zunächst zwischen Juliet und Dawsey, dann schreiben ihr immer mehr Mitglieder, vereinzelt auch Gegner des Clubs. Denn Juliet, die für die „Times“ einen Artikel über „den praktischen, moralischen und philosophischen Wert des Lesens“ schreiben soll, will die kuriose Vereinigung darin vorstellen. In den Briefen - zu den Adressaten gehören auch ihr Verlegerfreund, ihre beste Freundin und ein heftiger Verehrer - geht es um Literatur und Leben und darum, wie das eine auf das andere ausstrahlt: eine ganz neue Erfahrung für die meisten Mitglieder, die vor der Gründung des Clubs kaum je etwas gelesen haben außer der Bibel, Saatkatalogen und dem Fachblatt für Schweinezüchter. Einer nach dem anderen hat durch die Zusammenkünfte ein Buch entdeckt, das zu ihm spricht; die Spanne reicht von Sokrates und den Schriften des Marc Aurel über Shakespeare zu Dickens' „Pickwickier“, Brontës „Sturmhöhe“ und Wilfred Owens Lyrik. Natürlich kann Juliet einer Reise nach Guernsey irgendwann nicht widerstehen, und natürlich hat dieser Aufenthalt romantische Folgen, weil Juliet selbst natürlich unwiderstehlich ist. Und ja, es gibt ein Happy End, das dann doch noch ein Körnchen Rosamunde Pilcher enthält - aber diese Verflachung zum Ende hin verzeiht man gern.

          Der Charme des Buches liegt vor allem in den humorvoll-exzentrischen Charakterbildern; vor dem Hintergrund von Krieg und Besatzung bekommen die einzelnen Schicksale Tiefe und Gewicht (manchmal etwas viel davon). Mühelos hält die Autorin die Briefform durch, ein Genre, das in Zeiten, da auf zehntausend pragmatische E-Mail-Mitteilungen etwa ein handgeschriebener Brief kommt, auch Jüngere wehmütig stimmen kann. Und Leid und Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit rücken in einer Finanzkrise, die noch niemandem die Butter vom Brot nimmt, die Perspektive zurecht. Nicht nur der Ton des Romans, auch Juliet selbst erinnert an die formidable Helene Hanff, jene Meisterin im Briefeschreiben, deren Klassiker „84, Charing Cross Road“ vor einigen Jahren auch in Deutschland entdeckt wurde. Jetzt, da Hunderttausende hingerissen sind von Alan Bennetts „Souveräner Leserin“, könnte „Deine Juliet“ auf ganz anderen Nährboden fallen als das große Vorbild.

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