Marcel Proust in Bildern und Dokumenten : Im Schatten später Nichtenblüte
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Bild: Edition Olms
Hundert Jahre nach dem Beginn von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ feiert ein Bildband Marcel Proust.
Auf seiner Geburtsurkunde ist festgehalten, wann er zur Welt kam: Am 10. Juli 1871 um 14 Uhr. Doch richtig in die Welt trat er erst zweiundvierzig Jahre später, im November 1913, als sein Roman „Du côté de chez Swann“ erschien, der erste Band eines Zyklus namens „À la recherche du temps perdu“. Drei Bücher sollten es nach damaligem Plan werden, doch am Schluss erschienen sieben, und ihr Autor ist übers Schreiben am 18. November 1922 gestorben. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wie der Zyklus auf Deutsch heißt, ist der größte Roman des zwanzigsten Jahrhunderts.
Marcel Proust debütierte allerdings nicht mit „Unterwegs zu Swann“. Schon 1896 war „Freuden und Tage“ (Les plaisirs et les jours) erschienen, eine Sammlung von kleinen Prosastücken, angereichert durch Blumenillustrationen der befreundeten Malerin Madeleine Lemaire und den Noten zu vier Klavierstücken des Komponisten Reynaldo Hahn, Prousts damaligem Lebensgefährten (wenn man ihre bis heute ungeklärte Liebesgeschichte in einen so eindeutig besetzten modernen Begriff fassen will). „Freuden und Tage“ war in mehrfachem Sinne ein Liebhaberprojekt, das zur Epoche der Décadence perfekt passte, aber es fand keine Beachtung. Siebzehn Jahre später kam die „Recherche“, und mit ihr änderte sich alles: für Proust und für die Literaturgeschichte.
Juristische, nicht intellektuelle Ansprüche
Hundert Jahre also ist das bald her, und natürlich wollen alle vom Marcel-Proust-Jahr 2013 profitieren. Vor allem Patricia Mante-Proust. Sie trägt als Urgroßnichte des kinderlos gebliebenen Schriftstellers seinen Namen, weil ihre Großmutter Suzy, die Tochter von Prousts Bruder Robert, ihn bei der eigenen Hochzeit aus Stolz und Geschäftssinn behielt. Da war Proust schon tot. Mit Suzy Mante-Proust beginnt die Pflege eines Familienerbes, auf das seine Eigentümer juristische Ansprüche haben, aber keine intellektuellen.
Trauriger Beweis dafür ist ein im Grunde wunderschön gedachtes Buch, das pünktlich vor dem hundertsten Geburtstag der „Recherche“ parallel in Frankreich und in deutscher Übersetzung erschienen ist: „Marcel Proust in Bildern & Dokumenten“. Es ist überreich ausgestattet mit ebendem, was der Titel verheißt, und das Spektrum reicht von den berühmtesten Fotos und Gemälden bis zu weithin unbekannten, die dem Familienbesitz entstammen. Dadurch wird vor allem unser Bildwissen um Prousts Eltern und seine Kindheit erfreulich vermehrt.
Aber leider hat man sich nicht darauf beschränkt, ein Bilderbuch zu produzieren, sondern es durch Texte ergänzt. Die stammen großteils von Mireille Naturel, der Generalsekretärin der französischen Organisation „Amis de Marcel Proust“. Sie leistet dem verehrten Autor indes keinen Freundschaftsdienst mit ihrer banalen Zusammenstellung aus biographischen Fakten und Textauszügen, für die mit traumwandlerischer Sicherheit das Allerbekannteste aus der „Recherche“ herangezogen wurde: zum Beispiel die Beschreibungen der Menüfolgen, die Weißdornhecke am Wegesrand, die Kirchtürme von Combray und Martinville. Dazu gibt es dann jeweils Fotos von wenig virtuoser Qualität, die reale Vorbilder für diese Romanpassagen ins Bild setzen.
Selbstinszenierung der Urgroßnichte
Das alles mag man jedoch als Zugangshilfe ins Werk von Proust noch akzeptieren, wobei die Blütenlese dieser Auswahl nichts von der überwältigenden Romanlandschaft der „Recherche“ ahnen lässt. Und die kurzen Episoden aus Prousts Leben tragen kaum zum Verständnis seiner Bedeutung bei, da sie sich meist im Anekdotischen erschöpfen.
Wirklich schlimm indes ist die Selbstinszenierung der „Herausgeberin“ Patricia Mante-Proust, jener Urgroßnichte. Noch vor dem ersten Bild ihres „lieben Onkel Marcel“, mit dem die 1975 Nachgeborene so gern „bei einer Tasse Tee oder einem Glas Whisky-Cola“ diskutiert hätte, empfängt uns Madame Mante-Proust ganzseitig im kunterbunten Sessel „Proust Geometrica“, den Alessandro Mendini 1978 entworfen hat. Dieses Designobjekt ist einer jener Irrtümer in der Proust-Rezeption, die den Autor als Grenzgänger zwischen Tradition und Moderne betrachten. Er ist aber ein Solitär, der unzählige Epigonen, doch keinen einzigen Nachfolger gefunden hat, ein Schriftsteller, der absolut zeitlos ist.
Die größte philologische Leistung von Prousts Familie bestand darin, das korrigierte Typoskript von „Albertine disparue“, dem vorletzten Teil der „Recherche“, so gründlich verschlampt zu haben, dass sie es erst 1986 in einer Rumpelkammer wiederfanden. Ähnlich sorgfältig ist nun auch das Buch erstellt, für dessen Material man die Einwilligung von Patricia Mante-Proust brauchte. Dass dann vom Gestalter noch ein paar blassbraune Zierstreifen wahllos quer durch etliche Fotos gelegt wurden, ist wohl dem Wunsch nach einem Coffeetable-Buch zu verdanken, dem man die Spuren des Kaffees ansehen soll.