Célines Roman „Londres“ : Nebel ziehen vorbei wie Tänzerinnen
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Célines Erzählen lässt den Körper klamm werden und hüllt den Geist in kalten Dunst: Die Londoner Marylebone Road zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bild: Interfoto
Eine tolle Geschichte: Der zweite aus dem wiedergefundenen Manuskriptschatz Louis-Ferdinand Célines stammende Text führt ins mythisch-verruchte London. Nun ist er in Frankreich veröffentlicht worden.
Londres“ heißt der neue Roman von Louis-Ferdinand Céline. Nach „Guerre“ handelt es sich um den zweiten Text aus dem letztes Jahr wiederaufgetauchten Manuskripte-Schatz, den Gallimard veröffentlicht. Eine tolle Geschichte. Wir schreiben das Frühjahr 1916, Ferdinand, das Alter Ego des Autors, in „Guerre“ bei Ypern verwundet, ist der durchtriebenen Dirne Angèle nach London gefolgt. Dort hat er sich einer Gruppe französischer Mädchenhirten angeschlossen, deren Anführer ihm wohlgesinnt ist. Triebfeder des Geschehens ist der unaufhaltsame Niedergang der Bande im Würgegriff der englischen Polizei. Deren Schlingen ziehen sich immer enger um Luden im Allgemeinen und um fahnenflüchtige Franzosen im Besonderen. Der Roman trägt so Züge eines Abzählspielchens, einer Milieuchronik wie eines Ganovenromans.
Faszinierend ist zunächst die Porträtgalerie von schiefen Fressen zwischen Dix und Grosz, die „Londres“ entwirft. Da ist zuvörderst der mediterran ausgeglichene Cantaloup: ein Bandenführer mit Autorität und Augenmaß, der indes Mühe hat, die Mitglieder seiner dysfunktionalen „Familie“ vor Fehltritten zu bewahren. Den Kern der Gang bildet ein schillerndes Trio. Bijou ist Zuhälter, begnadeter Tänzer und Polizeispitzel in einem; seine zunehmend panischen Bestrebungen, mit Informationen über seine kriminellen Kollegen einen Aufschub für die Rückbeorderung an die Front zu erkaufen, kosten ihn schließlich Kopf und Kragen. Rodriguez Ostende – der Name ist so unecht, wie er klingt – ist Deserteur, hauptberuflich aber Falschspieler; sein pathologischer Drang zu betrügen hat ihm einen Bannfluch sämtlicher Spielhöllen eingebracht. Der russische Bär Borokrom endlich wurde wegen seiner Manie, anarchistisch-kommunistischen Überzeugungen mit dem Werfen von Bomben zusätzliche Sprengkraft zu verleihen, von Amerika bis Eritrea gejagt; das Traktieren von Tasteninstrumenten ist nicht sein geringstes Talent. Unter den zahlreichen mit dem Stichel gestochenen Nebenfiguren seien zumindest der gefallene Baronet Lawrence Gift genannt, dessen Würde weder Trunksucht noch Geldnot einen Abbruch tun; und der polnische Arzt Yugenbitz, dessen frappierend positive Zeichnung beweist, dass Céline zumindest vor seiner Hinwendung zu einem Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung 1937 durchaus Sympathie für jüdische Figuren zu bezeugen fähig war.
Lebendig unter Toten
Fesselnd sind sodann die Situationen, die der Romancier ersinnt. Im Keller der Mutter Crokett versetzt Bijous Tanztalent tobende Docker in einen derartigen Taumel, dass sie den Ballerino schier totschlagen. Ferdinand, der mit einer Gehirnerschütterung davonkommt, wähnt sich jäh in die mittelalterliche „Legende vom König Krogold“ katapultiert (einen weiteren wiederentdeckten Céline-Text, der nächstes Jahr erscheinen soll); in einem späteren Kapitel interagieren die Märchengestalten gar mit den Romanfiguren. Borokrom verfrachtet die beiden Opfer der orgiastischen Schlägerei auf einen Handwagen und karrt sie durch halb London; in dem „Totenbahnhof“, von wo aus jede Nacht eine frische Fuhre Verstorbene zu einem fernen Friedhof abfährt, erwacht Bijou aus dem Koma.
Beim Arzt Yugenbitz, wo die drei sich zeitweilig einnisten, wird Ferdinand seiner Berufung zum Mediziner gewahr. Sein erster Patient, für den er keine Mühe scheut, verstirbt prompt; Krankheit und Tod dieses Wickelkinds erinnern an das erschütternde Dahinscheiden des kleinen Bébert in „Reise ans Ende der Nacht“ und bilden einen emotionalen Höhepunkt von „Londres“ – wie auch Passagen über Yugenbitz’ junge Töchter und über den Kater Mioup, ebenfalls Figuren der Unschuld.