Lettische Romane : Alles, was sich bewegt, braucht Herzlichkeit
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Lettische Landschaft: „See im Vorfrühling“, um 1910 gemalt von Vilhelms Purvitis. Bild: INTERFOTO
Naturidylle, tränentreibende Komik und eine lebensverliebte Feier des Unvorhersehbaren finden sich in den lettischen Romanen von Edvarts Virza, Jānis Joņevs und Zigmunds Skujiņš. Sie liegen jetzt in deutschen Übersetzungen vor.
Menschen, Landschaften und Geschichten Lettlands, genauer: der alten Deutschordensprovinzen Livland und Kurland, könnten einer deutschen Leserschaft vertraut sein durch Eduard von Keyserling, Werner Bergengruen oder Siegfried von Vegesack, wenn deren Präsenz selbst nicht gegenwärtig langsam verblasste. Doch abseits der deutschbaltischen Literatur, die lange das Bild dieser Region dominiert hat, gab und gibt es auch eine eigene lettische Überlieferung, nicht erst seit 1918 beziehungsweise 1991, da Lettland – zwischenzeitlich sowjetisch okkupiert – als politisch unabhängiges Staatsgebilde existiert. Dass in letzter Zeit gleich mehrere Verlage lettische Bücher ins Deutsche übersetzen ließen, zeugt von sympathischem Mut und aufrichtigem Interesse am Baltikum.
Schon 2020 hatte der Berliner Guggolz Verlag mit „Straumēni“ von Edvarts Virza (1883 bis 1940) eine lettische Gegenerzählung zu den deutschbaltischen Schilderungen ländlichen Lebens vor dem Ersten Weltkrieg, etwa in Vegesacks „Baltischer Tragödie“, veröffentlicht. Dieses Prosapoem feiert ein naturnahes Wirtschaften auf einem Gehöft im Wandel der Jahreszeiten: eine Welt, die nach Kalmus und Kiefernharz duftet, in der man mit Tieren lebt, den Roggen auf der Tenne drischt und Zigeuner sich in Lehm einen Igel braten. Die Sprache Virzas, übersetzt von Berthold Forssman, hat den malerischen Glanz und die Intensität, wie sie der Däne Jens Peter Jacobsen besaß, nur dass Virzas sinnlicher Vitalismus kein Trotz aus Atheismus heraus (wie bei Jacobsen) ist, sondern eine eigene Form von Spiritualität. Für Virza ist der Dichter, wie er am Anfang schreibt, „beständig im Zwiegespräch mit dem Herrn“ und auch mit den Ahnen, denn er „kann die Sprache der Entschlafenen zum Erwachen bringen“.
Man kann sich keinen größeren Kontrast dazu vorstellen als den Jugendroman „Jelgava 94“ von Jānis Joņevs, der 2013 entstand und jetzt bei der Kölner Parasitenpresse in der rührend tapsigen, ebenso pointierten wie herzerwärmenden Übersetzung von Bettina Bergmann auf Deutsch herausgekommen ist. Er erzählt vom Leben in der lettischen Provinz drei Jahre nach der wiedererlangten Unabhängigkeit von der Sowjetunion aus der Sicht eines halbwüchsigen Schülers, der zur Zeit des Freiheitskampfes seiner Eltern noch zu klein gewesen war, um die große Wirklichkeit zu begreifen, und jetzt mit Bandenkriminalität, Drogenhandel und Metal-Szene einer Welt ausgesetzt ist, die auch seine Eltern überfordert. Auf das „auch“ kommt es an, denn der Ich-Erzähler selbst stolpert ziemlich unbeholfen durchs Leben und sieht sich – aus dem schreiberischen Abstand von fast zwanzig Jahren – mit gutmütiger Selbstironie dabei zu. Es fallen großartige Sätze wie: „Ich mochte ja alte Musik jeder Art ausgesprochen gern. Zum Beispiel die Beatles.“ Und die Einführung des neuen Fachs Sexualkunde in einer sowjetisch geprägten, völlig unterleibsverklemmten Schule ist von tränentreibender Komik. Man könnte „Jelgava 94“ einen Schelmenroman nennen, nur ist nicht der schüchterne, dünnhäutige Held in seiner Hilflosigkeit der Schelm, sondern der Autor, der aus diesem Helden erwuchs.
Die neueste und aufwendigste Veröffentlichung lettischer Literatur in deutscher Sprache kommt aus dem Mareverlag: „Das Bett mit dem goldenen Bein“, bereits 1984 in Sowjetlettland von Zigmunds Skujiņš (1926 bis 2022) herausgebracht, nun mit souveränem Humor und Lust an ländlicher Drastik ins Deutsche übersetzt von Nicole Nau, die auch hilfreiche Anmerkungen im Anhang beisteuert, die von Judith Leisters informativem Nachwort ergänzt werden.
Dort hatte sich schon der Baron Münchhausen herumgetrieben
„Das Bett mit dem goldenen Bein“ ist, wie der Untertitel sagt, die „Legende einer Familie“, und zwar der fiktiven Familie Vējagals aus dem livländischen Küstenstädtchen Zunte in der Grenzregion zwischen dem heutigen Lettland und Estland. Dieses Städtchen ist zwar ebenso fiktiv wie die Familie Vējagals, erinnert aber – wie Judith Leister gewitzt anmerkt – an den livländischen Ort Dunte, wo der echte Baron von Münchhausen anno 1744 Jacobine von Dunten geehelicht und mit ihr daselbst bis 1750 zu leben geruht hatte. Der Anklang daran mag ein Wink von Skujiņš sein, dass sich in seiner „Legende einer Familie“ vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert Fakten und Fiktionen munter mischen wie in einer Münchhauseniade.