: Knips mal die Spuren, die Reste, den Abschaum
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"Meine Box macht Bilder, die gibt's nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch nicht im Traum einfallen. Ist allsichtig, meine Box." Behauptet Marie. Wobei es Patrick ist, der erzählt, dass sie das behauptet habe. Obwohl ja nur Günter Grass schreibt, dass Patrick erzählt habe, dass Marie es so behauptet hat.
"Meine Box macht Bilder, die gibt's nicht. Und Sachen sieht die, die vorher nicht da waren. Oder zeigt Dinge, die möchten euch nicht im Traum einfallen. Ist allsichtig, meine Box." Behauptet Marie. Wobei es Patrick ist, der erzählt, dass sie das behauptet habe. Obwohl ja nur Günter Grass schreibt, dass Patrick erzählt habe, dass Marie es so behauptet hat. Und schon sind wir, mit Platon zu reden, dreifach von der Wahrheit ab.
Günter Grass schreibt über Patricks Erzählung von Maries Behauptung in seinem neuen Buch, das nach der wundersamen Box benannt ist und auf wundersame Weise eine Woche vor dem Ablauf der Sperrfrist bereits in den Buchhandlungen zu haben ist. Um was es dabei geht, zeigt die eigenhändige Zeichnung des Verfassers auf dem Schutzumschlag: eine schlichte Kastenkamera von Agfa, die im Text schließlich auf das Jahr 1932 datiert wird. Aber natürlich ist auch das Buch selbst die Box, über die Marie, wie Patrick erzählt, wie Grass schreibt, auch behauptet hat: "Die kann keiner beschummeln. Hat einfach den Durchblick." Deshalb gibt es im Buch den Camera-obscura-Vorsatz: vier nachtgraue Seiten zu Beginn und am Ende. Und dazwischen gibt es eine Serie von neun Aufnahmen.
Aufnahmen - das muss man doppeldeutig verstehen. Optisch und akustisch. Grass arrangiert Tableaus; in jedem der neun Kapitel nehmen bis zu acht Erzähler Aufstellung und sprechen über ihn. Aber zunächst spricht Grass jeweils über sie: "Es war einmal ein Vater, der rief, weil alt geworden, seine Söhne und Töchter zusammen." Die Fiktion des Märchens: Ein Schriftsteller (der Name Günter Grass fällt nie) wünscht sich 2007 zum achtzigsten Geburtstag einen Gesprächsreigen zwischen seinen acht Kindern über den abwesenden Vater. Dazu treffen sie sich in wechselnden Zusammensetzungen jeweils in der Wohnung eines der Kinder. Doch das erste Gespräch findet beim Dichter selbst statt, denn er setzt den Rahmen. Jedes Kapitel wird auch von ihm beschlossen - natürlich gehört dem das letzte Wort, der sich dies alles einfallen ließ, Grass kann eben nicht aus seiner Haut.
Dazwischen stehen dann die Gespräche seiner Kinder: reine Dialoge, bei denen die Leser aus dem Verlauf des Gesprächs erschließen sollen, wer jeweils spricht.
Einer von ihnen ist Patrick, genannt Pat. Die anderen heißen Georg, den alle nur Jorsch nennen, Lara, Thaddäus (genannt Taddel), Lena, Nana, Jasper und Paul. Dahinter verbergen sich, leicht zu entschlüsseln, die vier Kinder von Grass aus erster Ehe mit Anna Schwarz: Franz, Raoul, Laura und Bruno, die beiden unehelichen Töchter Helene und Nele sowie die beiden Stiefsöhne Malte und Hans, die Ute Grunert mit in die zweite Ehe brachte. Grass bleibt nahe am eigenen Leben und suggeriert damit höchste Authentizität.
Dennoch ist "Die Box" nicht einfach die Fortsetzung zum autobiographischen Buch "Beim Häuten der Zwiebel", das vor zwei Jahren kommerziell Furore machte und Furor und Empörung erzeugte. "Die Box" erzählt zwar das Leben des Schriftstellers ungefähr von dem Zeitpunkt an fort, wo "Beim Häuten der Zwiebel" aufhörte - 1959 mit Erscheinen der "Blechtrommel" -, und führt auf nur zweihundert Textseiten immerhin bis zur Publikation von "Ein weites Feld" 1995, doch diesmal hat sich Grass wieder "in dritter Person verkappt", also jenen Kunstgriff angewandt, den er im Erinnerungsbuch von 2006 durch den Gebrauch des "Ich" unterlief. Dies legt er nun seinen Kindern in den Mund.
Zugleich aber leider auch eine Sprache, die keine Variation nach Generationen kennt - immerhin liegen Pat und Jorsch als die Ältesten und Nana als die Jüngste einundzwanzig Jahre auseinander - und mit ihren Ellipsen und Abbreviaturen immer nur eines ist: Grass-Sound. Das ist die große Schwäche des Buchs. Seine große Stärke ist die wahre Hauptperson: die Fotografin Marie, die Besitzerin der Box. In ihr ist sofort die mit Grass befreundete Fotografin Maria Rama zu erkennen, der das Buch auch gewidmet ist.