Katie Arnold-Ratliff: Was uns bleibt : Schuld und Sühne eines Feiglings
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Bild: Mare Verlag
Katie Arnold-Ratliff ist noch keine dreißig und steckt doch manche Größen der amerikanischen Literatur in die Tasche: Nun erscheint ihr Debütroman „Was uns bleibt“ auf Deutsch.
Katie Arnold-Ratliff wurde in Sacramento geboren und arbeitet für Oprah Winfreys Lifestylemagazin „O“, aber von kalifornischer Hochglanzoptik ist ihr erster Roman meilenweit entfernt. Nichts an „Was uns bleibt“ ist gefällig, oberflächlich oder heiter, im Gegenteil. Die Zukunft des zweiundzwanzig Jahre alten Lehrers Francis Mason ist so düster wie seine Kindheit, das Wetter meistens schlecht, der Ton rau. Selbst der Strand unterhalb der Golden Gate Bridge, wo Francis’ Zweitklässlern bei einem Ausflug eine verstümmelte Wasserleiche finden, ist angemessen trostlos.
Der Junglehrer macht es sich und anderen auch nicht gerade einfach. Nora und Greta, die beiden Frauen, zwischen denen er sich nicht entscheiden kann, stößt er mit seinen Lügen, Ausflüchten und kleinen Gemeinheiten immer wieder zurück. Die Kinder, die er unterrichten soll, machen ihm Angst und leben selbst in Angst vor seinen Absencen und Wutanfällen. Nicht einmal der Leser hat es leicht: Ein wenig gewinnender Held, der sich in Beziehungsproblemen, Panikattacken und manisch-depressiven Selbstanalysen zerfleischt, verwirrende Rückblenden und stilistische Eigentümlichkeiten wie das häufig eingesetzte Präteritum der zweiten Person Singular ziehen eher hinunter als in den Roman hinein. Aber es lohnt sich, dran zu bleiben, nicht nur weil am Ende des Tunnels ein Hoffnungsschimmer leuchtet.
Lernen, wie man Mensch wird
Die Wasserleiche, vermutlich eine Selbstmörderin, erinnert Francis an seine erste und größte Liebe. Nora war für ihn da, wenn sein Vater ihn verprügelte und seine vulgäre Mutter ihn abstieß. Sie gab ihm das Gefühl, kein Versager zu sein, verzieh ihm seine Schroffheiten und verschwand dann doch spurlos aus seinem Leben. Dass sie jetzt, wenn auch nur aus seiner Erinnerung, wieder auftaucht, wirft Francis völlig aus der Bahn. Statt sich um die verstörten Kinder zu kümmern, suhlt er sich in Selbstmitleid; statt die Hilfe besorgter Eltern und wohlmeinender Kollegen anzunehmen, flüchtet er sich in Provokationen, Alkohol und sedierende Tabletten. Francis will immer das Richtige tun und macht alles falsch.
Er soll den Kindern helfen „zu lernen, wie man Mensch wird“, und ist doch selbst bloß ein Nervenbündel, gehetzt von Schuld und Schamgefühlen, Paranoia und Alpträumen, unsicher, unreif und unfähig, der „jämmerlichen Wahrheit“ ins Auge zu blicken. Mit Versteckspielen und Verdrängen hofft er sich durchmogeln zu können, aber nicht einmal seine Überlebensstrategie „Sei woanders, zieh dich still in dich selbst zurück“ geht auf. Am Ende wird Francis erkennen müssen, dass all seine Lügen Fehlkalkulationen waren, weil sie ihn mehr kosteten und mehr verrieten als jede Wahrheit.
Lakonisch und behutsam
Greta, die Frau, die Francis mehr als einmal für Nora verließ, weiß, dass sie für ihn nur die nette, unkomplizierte Gefährtin, ein Notnagel und stiller Vorwurf ist. Erst als er die Schwangere wieder einmal im Stich lässt, ist ihre Geduld erschöpft: „Du wählst den Weg des geringsten Widerstandes. Und dann findest du ihn langweilig. Du wählst den besseren Weg, und du fällst. Du machst weiter die Dinge, die du hasst, damit du dich beraubt fühlen kannst, damit du verwirrt rumlaufen und dich fragen kannst, wie du um alles betrogen werden konntest, was du jemals haben wolltest.“ Francis hat Frau, Job und den letzten Rest seines Selbstvertrauens verloren. Aber ganz unten, gestrandet in der amerikanischen Provinz, findet er endlich wieder Boden unter den Füßen, in einem waffennärrischen Friseur einen väterlichen Freund und in New York schließlich die verschollene Nora. Nach einer letzten Nacht mit ihr kehrt Francis zu Greta zurück: Der jämmerliche Egoist beginnt sich endlich seiner Verantwortung zu stellen. Sein Unglück war kein Unfall, kein böser Albtraum, sondern der Bruch eines grundlegenden Abkommens: „Dass wir frei sind und dass wir entscheiden, was für Menschen wir werden... Die Geschichte, die ich kennen muss, ist die, die ich gemacht, aus dem Rohmaterial meines Scheiterns gefertigt habe.“
Katie Arnold-Ratcliff erzählt die Geschichte eines verzweifelten Feiglings so lakonisch und doch behutsam, dass man am Ende fast so etwas wie Sympathie oder wenigstens Mitgefühl für ihn empfindet. Die durchgängig männliche Perspektive und die psychologische Unerbittlichkeit und Kälte, mit der sie ihren Anti-Helden seziert, traut man eigentlich eher einem Raymond Carver oder John Cheever als einer Frau zu. Katie Arnold-Ratcliff ist noch keine dreißig Jahre alt, aber literarisch und menschlich schon reifer als so mancher große alte Mann der amerikanischen Literatur.