Kathrin Schmidts Roman „Du stirbst nicht“ : Steh auf und erinnere dich
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Bild: Kiepenheuer & Witsch
Wenn das eigene Leben Stück für Stück zurückerobert werden muss: Kathrin Schmidts Roman erzählt von einer langwierigen Genesung, die zugleich eine Selbstbefreiung durch Sprache ist.
Wie klein und verzerrt die Welt ist, betrachtet aus Sicht der Frau, die eben aus dem Koma erwacht. Nichts weiß sie. Nur Brocken einer Sprache, die ihr nach einer Hirnblutung geblieben ist. Hört sie nicht ein Klappern? Die Mutter sprechen vom Besteck? Die Augen lässt sie lieber noch geschlossen. Und öffnet eines später doch einen Spalt, um ihre Tochter zu sehen wie eine ferne Bekannte. „Das Mädchen hat Kummer. Aber welchen? Wen könnte sie fragen?“
Ja, wen? Und vor allem: wie? Kathrin Schmidts Albtraumszenario in ihrem Roman „Du stirbst nicht“ ist aus dem Stockdunkel einer Höhle geschrieben, die man nicht freiwillig betritt. Hier ringt jemand mit Wucht ums Verstehen. Fragt, beobachtet, wühlt weiter. Doch dieser vierundvierzigjährigen Frau fehlt zunächst, was Menschen in Beziehung treten lässt: die Möglichkeit, sich mitzuteilen. Und das Persönlichste – die eigene Vergangenheit. Aber Helene Wesendahls Leere füllt sich allmählich. Erinnerungen beginnen in diesem Brachland zu wachsen. Das hartnäckige Schürfen nach Vergessenem gibt neben dem Klinikalltag den Takt dieses Romans an. Blitzartig schießt die Vergangenheit ein. Dann bleibt es wieder lange stumm. Und so gelingt, was wir seit Kafkas Käfergeschichte, seit der konsequenten Anwendung solcher Schlüssellochperspektiven kennen: Die Literatur wird zum Ort der Einzelhaft.
In einer undurchsichtigen Welt
Manchmal beugen sich Menschen in dieses Gefängnis und schauen in Helenes undurchsichtige Welt. Ihr Mann, der jeden Tag kommt; eines ihrer fünf Kinder oder zwei; die Schwester, die sie beim Schlaf stört, den sie so dringend braucht. Lange, erschöpfte Ruhephasen, in denen sie sich vom Denken erholt. Helene fehlt „die Halteleine“. Und so stapft man mit ihr durch die „Wildnis der Wahrnehmung“, durch einen Prosadschungel, der im wörtlichsten Sinn irritierend naiv erscheint – bis mit den Erinnerungen die Schuld, die Scham, das Chaos zurückkehren.
Bewegend an diesem Roman ist nicht so sehr die Wiederentdeckung dieser Vergangenheit – Stationen eines Lebens in Ostdeutschland, die Ehe, die Geburten, die Wende, eine Affäre. Verwirrend ist, wie Kathrin Schmidt das verspätete, unpassende oder nicht vermittelbare Eintreffen der Gefühle beschreibt. Am Anfang „zieht es ein bisschen“, und die Nachricht von der Krankheit dringt durch Watte, erschreckend emotionslos durch den Schock. Dann fließen Helenes Tränen reflexartig. Später, nach Rückschlägen auf dem Weg der Genesung, kommt Ohnmacht. Dann tritt sie wie ein Kind um sich. Schmerzlich ist ihr die eigene Bockigkeit und der Krankenbonus bewusst, den ihr fürsorgliche Besucher verleihen.
Eruptive und agile Sprache
Kathrin Schmidt übersetzt die Merkwürdigkeit des Nachholens und Nacherlebens von Fakten und Emotionen in eine eruptive, agile, neugierige Sprache, die emsig benennt. Jede Beunruhigung, Freude, Trauer notiert Helene wie Merkmale einer Fremden, zu der sie mühsam die passenden Bilder sammelt. So wird diese Krankheitsakte zur beständigen Selbstbefragung, zum Kampf um die eigene, historisch gewordene Biographie.
Man ist bei einer Autorin wie der 1958 in Gotha geborenen, in Berlin lebenden Kathrin Schmidt für einen kurzen Moment verführt, diese Geschichte eines brutalen Umbruchs auf die DDR zu beziehen. Das Sprechverbot wäre eine wunderbare Metapher für die Folgen der Wende, für den Verlust alles Vertrauten, wenn innere, veraltete Bilder nicht mehr kommunizierbar scheinen. Selbst Helenes wuchtig einschießende Erinnerung an ihre Liebesbeziehung zu Viola, einer transsexuellen Frau, wegen der sie sogar überlegte, ihren Mann zu verlassen, ließe sich als das schlechthin Janusköpfige deuten: Orientierungslosigkeit und Verführung in Ost wie West. Im Kern geht es um Aufarbeitung von Vergangenheit: „Hat die Gegenwart sie als Geisel genommen, um die Vergangenheit freizupressen?“ Und ist es Zufall, dass ebendiese Affäre, die sich zuletzt vor allem aus E-Mails nährt, schließlich an Projektionen zerbricht?