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Kafkas Sätze (34) : Die Schönheit des Gestrüpps

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Kafka lesen heißt, im Schriftgestrüpp unablässig zu suchen. Kafka kennen kann man nicht, ihn entdecken jederzeit. Michael Lentz über einen Satz, der Kafkas Gesamtwerk als Motto vorangestellt werden könnte.

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          „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“

          Diesen so nüchternen und kühlen, deutlich von der Gestalttheorie geprägten Satz spricht der Geistliche im Roman „Der Process“ zu Josef K., als beide sich während eines Disputs im Dom nicht darüber verständigen können, wie nun die vom Geistlichen erzählte Geschichte des Mannes vom Lande zu deuten sei, der den vor dem Gesetz stehenden Türhüter um Eintritt in das Gesetz bittet. Josef K. ist fest davon überzeugt, dass der Mann vom Lande der Getäuschte sei, die erlösende Mitteilung des Türhüters sei erst dann erfolgt, als sie dem Mann nicht mehr habe helfen können.

          Der Geistliche hingegen gibt zu bedenken, dass Josef K. zu viel auf die Meinung anderer achte und selber derjenige sei, der sich täusche: über das Gericht, das ihn verurteilt habe, über das Gesetz, das er genauso wenig anerkenne wie das Gericht, und jetzt eben über die Geschichte des Mannes vom Lande, eine der einleitenden Schriften zum Gesetz. Im Übrigen sei die Notwendigkeit der Wahrheit übergeordnet, habe der Türsteher doch in Ansehung des Gesetzes gehandelt, auch wenn er das Innere des Gesetzes vielleicht gar nicht kenne. So gehen die Meinungen hin und her – und mit ihnen unterwandert Kafka die Form und die (biblische) Tradition der Parabel, die unter anderem auf einer Wahrheitsaussage, auf der Verschmelzbarkeit von wörtlicher und figurativer Rede und der Autorität der Stimme (anstelle der Schrift) gründet. Was ist das Gesetz? Die Schrift ist das Gesetz; sie wirkt überall, sie ist ein unausmesslicher Raum, man schaut sie staunend an. Jahrhunderte vergehen, sie wird unverändert staunend angeschaut. Die Schrift löscht den Körper aus, dem sie vorhergeht und den sie überdauern wird. Welcher Art Verzweiflung aber ist das, wovon der Geistliche hier spricht? Eine theologische, juristische oder (literatur-)hermeneutische?

          Sein eigener Hermaneut

          Den „Process“ als Interpretationsprozess weigert sich Josef K., auf sich zu beziehen. Kafka ist textimmanent sein eigener Hermeneut, der die Frage der Auslegung geradezu inszeniert und ritualisiert, ein Fährtenleger im Gestrüpp des Dschungels, der den Leser zum Nasenarbeiter, zum Spurensucher macht. Der Satz, Kafkas Poetologie in Pillenform, könnte dem Gesamtwerk als Motto vorangestellt werden.

          Kafka lesen heißt, im Schriftgestrüpp unablässig zu suchen. Kafka kennen kann man nicht, ihn entdecken jederzeit. Man betrachte die Schönheit dieses Gestrüpps, seine Komik – eine Komik der Selbstentlarvung. Und wenn es stets nur die falschen Fährten wären? Lachen kann ein Ausdruck der Verzweiflung sein: Es steht da, was da steht, sonst nichts. Und damit kann sich niemand abfinden. Es gibt keine Interpretation, nur die wortwörtliche Wiederholung der Schrift.

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