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Juli Zeh: Nullzeit : In der Albtraumwelt der Tiefe

Bild: Verlag

Tauchen und täuschen: Juli Zehs neuer Roman „Nullzeit“, der ein Psychothriller sein will, erzählt von einem Verbrechen unter Wasser.

          3 Min.

          Gibt es ein hässliches Leben im schönen? Anscheinend ja. Jolante Augusta Sophie von der Pahlen, genannt Jola, beliebte Schauspielerin, 384 000 Treffer bei Google, vertraut ihrem Tagebuch am 14. November 2011 an: „Wir sind auf einer Insel, wir haben Geld, wir sind gesund. Aber es ist hässlich. Je mehr Hässliches ich denke und tue, desto hässlicher wird mein Leben.“ Wir - damit meint Jola sich selbst und ihren eine Generation älteren Lebensgefährten Theodor Hast, Schriftsteller, 12 400 Google-Treffer. Die Insel - das ist Lanzarote. Geld - das besitzt nur Frau von der Pahlen, Herr Hast hat seit seinem Debütroman vor zehn Jahren nichts mehr zustande gebracht. Hässlich - das bezieht sich auf die Gedanken an einen anderen Mann. Entsprechend zerrüttet ist die Beziehung. Um sie zu kitten, haben Jola und Theo einen Urlaub auf Lanzarote gebucht, zwei Wochen in einer privaten Tauchschule, denn Jola spekuliert auf die Hauptrolle in einer Verfilmung des Lebens der Taucherin Lotte Hass, der Ehefrau von Hans Hass. Diese Ehe war ein Spektakel, und auch bei Jola und Theo vermischen sich Beruf und Privates aufs schlimmste.

          Andreas Platthaus
          Verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben.

          Das geht dem zweiten Paar der Geschichte genauso. Sven Fiedler hat sich 1997 gemeinsam mit seiner Freundin Antje Berger von Deutschland nach Lanzarote abgesetzt, und dort betreiben beide zusammen jenes Taucherdomizil, in dem sich Jola und Theodor eingemietet haben. Grund für den Ausstieg war Svens Desillusionierung über sein Jurastudium: „Mit Deutschland, das ich seitdem das ,Kriegsgebiet’ nannte, wollte ich nichts mehr zu tun haben. Als ich wenig später auf der Insel ein neues Leben begann, war ,Raushalten’ das Fundament, auf dem ich meine Weltsicht erbaute.“ Viermal „ich“ in zwei Sätzen, kein Wort über Antje. Die Probleme des zweiten Paars sind auch klar.

          Das Leben funktioniert wie ein Kriminalroman

          Das sind keine schlechten Voraussetzungen für Juli Zehs neuen Roman „Nullzeit“, der ein Psychothriller sein will. Gerade weil alles anfangs so absehbar verläuft, bleibt Platz für Überraschungen. Und die beiden Erzählinstanzen des Buchs - Jola per Tagebuchnotizen, Sven als Ich-Erzähler - können als Figuren jeweils auf Erfahrungen ihrer Autorin zurückgreifen: 470 000 Google-Treffer ergibt der Name der achtunddreißig Jahre alten Schriftstellerin derzeit, beliebt ist sie auch, und nicht zuletzt hat Juli Zeh ein Jurastudium absolviert, glanzvoll sogar, genau wie Sven, der nicht an seinen Noten verzweifelt ist - ganz im Gegenteil -, sondern am Zynismus der Professoren.

          Gerade weil Juli Zeh zweien ihrer vier Protagonisten aber so nahesteht, bleiben die anderen beiden bloße Abziehbilder. Keine Spur einer Herausforderung für die frische Faszination zwischen Jola und Sven. Das ist das erste Manko dieses Romans, denn zum Psychothriller gehört definitionsgemäß eine gewisse psychologische Tiefe. Das zweite Versäumnis ergibt sich aus einem anderen Anspruch der gewählten Form. Gegen Ende des Buchs findet sich eine kleine Reflexion darüber, dass das Leben wie ein Kriminalroman funktioniere: Es verzeihe keine Schwachstellen. Das ist wahr, bitter wahr, wie man bei der Lektüre von „Nullzeit“ feststellt. Denn da gibt es Schwachstellen.

          In diesem Buch überschreiten alle die Nullzeit

          Nehmen wir nur jenes Erlebnis, das Sven die Lust an der Juristerei vergällt hat: sein mündliches Staatsexamen. Juli Zeh schweigt sich darüber aus, ob es das erste oder das zweite war. Aber das macht nichts, denn es wird von vier Juraprofessoren abgenommen, also weiß man, dass es das erste Staatsexamen gewesen sein muss, denn im zweiten prüfen überwiegend Praktiker (Richter, Anwälte, Ministerialbeamte). Andererseits muss es dann doch das zweite gewesen sein, denn die Prüfung findet im Justizministerium statt, und das ist nur beim zweiten der Fall. Svens Staatsexamen, wie es hier geschildert wird, kann es gar nicht gegeben haben.

          Vielleicht hat Juli Zeh alle Aufmerksamkeit dem zentralen Thema des Romans, dem Tauchen, gewidmet. Da holt sie aus, wird fast elegisch. Ruhig ist es unter der Wasseroberfläche, schwerelos, alles fällt vom Taucher ab, obwohl immer mehr Druck auf ihm lastet, je tiefer er kommt. Und desto länger braucht er, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Den Titel „Nullzeit“ verdankt der Roman jener so benannten Zeitspanne, die man in einer bestimmten Wassertiefe verbringen kann, ohne beim sofortigen Wiederaufstieg zur Oberfläche gesundheitlichen Schaden zu riskieren. In diesem Buch, in dem alle irgendwie abzutauchen versuchen, überschreiten auch alle die Nullzeit.

          Leider auch die Autorin. Ohne Schaden kommt sie aus den selbstgewählten Tiefen nicht mehr heraus. Am Schluss erweist sich das ganze Geschehen als perfider Mordplan, und dadurch wird das immer größere Auseinanderklaffen der Ich-Erzählung von Sven und Jolas Tagebuchnotizen verständlich. Aber der eigentliche Plan ist es nicht. Und die Figuren sind es auch nicht, weil Juli Zeh, die mit Sven den Zorn über die deutschen Zustände teilt, aber nicht dessen fatalistischen Fluchtgedanken, und mit Jola die Verletzung einer früh Gefeierten über die spätere Boshaftigkeit von Kollegen und Kritik, aber nicht deren künstlerischen Abstieg, ihre Hauptfiguren so anlegt, als stünde das Komplott schon fest, bevor sie sich begegnen. Nein, es gibt kein hässliches Leben im schönen. Dass aber die Existenz hässlichen Lebens Schönheit ausschlösse, ist ein Trugschluss. Er lässt „Nullzeit“ scheitern.

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