Judith Hermanns erster Roman : Stella oder das Märchen vom Stalker
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Roman-Debütantin: Judith Hermann hat zum ersten Mal die literarische Großform gewählt. Bild: dpa
Judith Hermann bevorzugte bisher die kurze Distanz. Schon deshalb gilt ihr erster Roman als Ereignis. Ist das vielleicht sogar der einzige Grund? In „Aller Liebe Anfang“ geht syntaktische Schlichtheit mit gedanklichen Belanglosigkeiten einher.
Judith Hermann hat zwei Probleme: Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen. Das sind denkbar ungünstige Voraussetzungen für eine Position, wie sie ihr immer noch, auch nach ihrem soeben erschienenen ersten Roman „Aller Liebe Anfang“ zugestanden wird: die einer der „wichtigsten Stimmen“ der jüngeren Literatur, einer „Meisterin“ gar. Wenn man nicht schreiben kann, hält man sich am Stoff schadlos, der dann eben etwas außergewöhnlich ausfällt. Und wenn man nichts zu sagen hat, dann macht man das mit seinem Stil wett. So kann man auf die eine oder andere Weise Schriftsteller sein.
Es ist nun durchaus nicht so, dass Judith Hermanns Roman sonderlich gut weggekommen wäre; manche Besprechung ist so lau wie ihre Prosa - sollte das mit dem „Sog“ gemeint sein, von dem viele offenbar immer noch glauben, Hermann übe ihn aus? Aber auch wenn es zu einem richtig dicken Lob, das damals für ihre Erzählungen „Sommerhaus, später“ (1998) reichlich übertrieben ausfiel, diesmal nicht gereicht hat, so macht die Literaturkritik sich in diesem Fall schon durch bloße Nachsicht verdächtig. Die gelegentlich geäußerte Überlegung, was die Unbestimmtheit ihres Erzählens mit der Lage des Landes zu tun haben mag, kann man sich sparen. Es lohnt sich nicht, über so etwas nachzudenken.
Die in einem vielleicht deutschen, vielleicht auch amerikanischen Vorort angesiedelte Geschichte der siebenunddreißigjährigen, ambulant tätigen Krankenpflegerin Stella, ihres Mannes Jason und ihrer Tochter Ava (nicht „Ada“, wie es in einer Besprechung hieß; da wollte wohl jemand Augenhöhe mit Nabokov insinuieren) entspricht von ihrem auf unterschwellige Bedrohung und finale Eskalation setzenden Ablauf her am ehesten noch einem amerikanischen Thriller nach Art von Stephen King. Tatsächlich aber bleibt das Stalking durch den Nachbarn Mister Pfister, dem Stella ausgesetzt ist, bis zum Schluss nicht annähernd so bedrohlich wie behauptet und ist dazu unmotiviert. Mister Pfister, heißt es, als würde das irgendetwas erklären, habe einfach die „Nerven“ verloren.
Redundanz trotz Reduktion
Sollte es Judith Hermanns Absicht gewesen sein, mit ihrer Stalking-Geschichte zu zeigen, dass das Leben schnell aus den Fugen geraten, dass Nachstellen auch Liebe sein kann, wenn auch eher eine krankhafte, und dass die meisten Gefühle und Einstellungen oft zwiespältig sind - dann kann man nur sagen: Ja, davon hat man schon mal gehört. Hermann aber inszeniert ihre Grundidee, dass der Stalker ja nur ein „Spiegel“ ist und Stella ihre eigene latente Unzufriedenheit oder Verzweiflung vorhält, dermaßen zäh, dass man sich am Ende sagt: Wenn’s weiter nichts ist.
Es mag sein, dass Stella immer wieder eine „wilde Sehnsucht“ umtreibt, von der ihr Mann nichts wissen darf und die sie am Ende dazu treibt, den Verfolger doch zur Rede zu stellen. Aber diese „wilde Sehnsucht“ bleibt Behauptung und war früher im Übrigen etwas für Kitschromane. Jason schlägt Mister Pfister schließlich krankenhausreif. Nach dieser schweren Körperverletzung, die folgenlos bleibt, zieht Stella mit Mann und Kind woandershin. Die Schlussszene kommt einem vor wie die „Du, John-Boy“-Gute-Nacht-Gespräche am Schluss der „Waltons“: „Stella, sagt Jason, bist du wach? Sieh mal aus dem Fenster, wenn du kannst. Was würde ich sehen, wenn ich könnte, sagt Stella. Einen unfassbar riesigen orangegelben Halbmond eine Handbreit überm Horizont.“ Wieso sollte Stella plötzlich nicht mehr aus dem Fenster sehen können? Ist sie jetzt so bettlägerig wie ihre Pflegefälle?