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Irene Dische: Großmama packt aus : Nichts geht über eine Tochter

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Großmama ist eine komplexe Metapher: Irene Dische erfindet sich in ihrer Großmutter als Autorin ihrer Geschichte. Ein wunderbar humorvoller Roman über Identität, Frauen, Erinnerung, Europa und Amerika in drei Generationen.

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          Die Erfahrung der Älteren läßt sich von den Nachgeborenen nicht wiederum erfahren. Diese Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit ist ein Glück für die Kinder und ein Ärgernis nicht nur für Eltern, sondern auch für eine Erinnerungskultur, die den Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig ins kollektive Gedächtnis einschreiben will.

          Dazwischen aber gibt es von jeher eine seltsame Eifersucht auf die Erlebnisse der Altvorderen, so schwer sie auch gewesen sein mögen, die sich jenseits der verordneten Erinnerung manifestiert. Ein solcher Impuls erscheint in Irene Disches kürzlich in dieser Zeitung vorabgedrucktem Roman „Großmama packt aus“ als treibende Kraft eines Erzählens, das die Distanzen wagemutig überbrückt. „Wir hatten etwas erlebt, das sie nie erleben würde, und sobald ihr das klar wurde, ärgerte sie sich furchtbar darüber, daß sie zu kurz oder zu spät gekommen war.“

          Das sagt Elisabeth Rothers, die erzählende Großmama, über ihre Enkeltochter, die Schriftstellerin Irene Dische. Die Handlung des Romans folgt der deutsch-jüdisch-amerikanischen Familiengeschichte der Rothers und der Disches, jedoch fungiert die nicht nur körperlich überdimensionale Großmutter nicht als perspektivisch gestaltete Zeitzeugin, vielmehr als eine höchst widersprüchliche narrative Instanz.

          Sie kann allen in den Kopf schauen

          So redet sie einerseits im unverkennbaren Stil Irene Disches, jener Kunstform eines urbanen Idioms, das vor allem in New York City zu Hause ist: ungeduldig, witzig, augenzwinkernd theatralisch und auf menschenfreundliche Weise zynisch. Reinhard Kaiser hat das stilsicher in ein ungezwungenes Deutsch übertragen. Andererseits wird Großmama nicht müde, ihre konservativen Überzeugungen darzulegen. Sie hat altersgerecht allerlei Lebensweisheiten parat, die freilich weder Tochter Renate noch Enkelin Irene beherzigen. Und gelegentlich tut sie auch ein wenig schusselig: „Aber wo war ich stehengeblieben?“

          Für diese Großmutter gilt erstens, daß sie immer recht hat, und zweitens, daß erstens auch da zutrifft, wo sie nicht recht hat. Ihr erzählender Zugriff auf die anderen hat daher gelegentlich totalitäre Züge. Sie kann allen in den Kopf schauen und weiß sogar, was bei einem Seitensprung in ihrem Ehemann vorgeht. Aber so verzeiht sie ihm schließlich, nachdem sie sich beinahe getrennt hätte. Das wäre zweifellos ein Fehler, ein Mangel an Haltung gewesen. Man läßt sich nicht scheiden, wenn man aus guter rheinischer Familie stammt.

          Selbst wenn sie lügt oder sonstwie sündigt, vergibt ihr der liebe Gott, denn er weiß unter den schwierigen Umständen meist auch keine bessere Lösung. Und mit den Lebensweisheiten ist es wie mit den Gebeten. Selbst wenn sie niemand erhört, so stärken sie doch die eigene Standhaftigkeit. Ihr Gott schien damals wirklich nicht gut gehört zu haben, sonst hätte er sie als deutsche Katholikin nicht „derart im Judentum versinken“ lassen, sondern ihr mit der Geburt zahlreicher katholischer Nachkommen ein ihm gefälliges Leben ermöglicht. Sie aber hat den jüdischen Arzt Carl Rothers geheiratet. Der ist zwar zum Katholizismus übergetreten, aber das nützte unter den Nazis bekanntlich nichts. Obwohl sie von den Juden nicht viel hält und sich für Politik nicht interessiert, wendet sie sich furchtlos gegen die Nazis, als die ersten judenfeindlichen Maßnahmen verhängt werden, der Staat also ihre Lieben „belästigt“. Rechtzeitig organisiert sie die Flucht der Familie nach New York. Der Verlust des guten Lebens und des schönen Hauses im oberschlesischen Leobschütz ist ihr keine Träne wert, nur von der treudeutschen Haushälterin Liesel trennt sie sich ungern.

          Eine komplexe Metapher der Literatur

          An die vielen Juden in New York kann sie sich ebenso schlecht gewöhnen wie an Schwarze und Puertoricaner, gleichwohl betreibt Mops, wie sie von ihrer Tochter in liebevoller Respektlosigkeit genannt wird, die Integration und den Wiederaufstieg der Familie mit der ihr eigenen munteren Entschlossenheit. Den Einbürgerungseid spricht die deutsche Patriotin derart überzeugend, daß der zuständige Beamte ganz bewegt ist.

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