: In der Klopferwelt
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Wollen wir das wissen? Ein kleines Mädchen ist anders als alle anderen, es hat nur seinen Bruder und die Mutter, in der Schule wird es verhauen, erlebt schrecklich viel Unglück, aber doch allmählich auch Glück, gewinnt Respekt und Freunde . . . Verzeihung: Wir haben einen Arbeitstag, Radio, zwei ...
Wollen wir das wissen? Ein kleines Mädchen ist anders als alle anderen, es hat nur seinen Bruder und die Mutter, in der Schule wird es verhauen, erlebt schrecklich viel Unglück, aber doch allmählich auch Glück, gewinnt Respekt und Freunde . . . Verzeihung: Wir haben einen Arbeitstag, Radio, zwei Rechner sowie einen gut funktionierenden Fernseher, und hier kommt also Axel Brauns und möchte, daß wir seinen Roman lesen. Denken wir. Zunächst. Und lesen doch erst mal weiter. Und weiter. Und durch. In Ermangelung einer Kinderbuchnichte geben wir das Buch an eine intelligente Großperson weiter, die verschlingt es ebenfalls, und wir fragen uns also: Ist das doch ein Erwachsenenbuch?
Im Jahr 2002 debütierte Axel Brauns mit "Buntschatten und Fledermäuse", einem autobiographischen Werk über das Leben eines jungen Autisten. "Kraniche und Klopfer" ist nun sein erster Roman. Im neuen, fiktionalen Rahmen taucht hier einiges Bewährte wieder auf: Sprachbegabung, Wortfunde und Neuschöpfungen, die aus der unprätentiösen Prosa hervorfunkeln, das Außenseitertum der Hauptfigur und ihr enges Verhältnis zu Mutter und Bruder. Axel Brauns hat eine Grundschülerin zu seiner Heldin gemacht, und man kann diese Entscheidung für mutig halten; dem Autor wird sie sich aufgedrängt haben. Zu wenig versteht er, der Autist, von den Selbstverständlichkeiten und Tücken der Erwachsenenwelt, von Begegnung und Leidenschaft, von Haß und Zicken und Macken - wir dürfen das sagen, denn Brauns hat selbst darüber Auskunft gegeben. Adina, das Außenseitermädchen, ist ihm eine handhabbare Hauptfigur: Sie wächst an einem Rückzugsort auf, in einem Haus voller Schrott und Gerümpel, einem Haus, in dem es kaum etwas anderes als Graubrot zu essen gibt, Körperpflege weitgehend unbekannt ist. Adinas Mutter hat ihr Leben nicht im Griff. Sie warnt ihre Tochter vor der Welt da draußen, denn dort wohnen die "Klopfer". "Du mußt wissen", sagt die Mutter, "die Klopfer sind furchtbar mächtig. Sie haben die Macht, dich zu rauben." Gemeint ist wohl das Jugendamt.
Wie in Brauns' erstem Buch dient auch hier die Sprache der Markierung des Andersseins: "Kirschglücklich", "bimssteingut", "Igittgesicht" - Adinas Privatwortschatz bezeugt die Abgeschiedenheit ihres Daseins. Die Entwicklung, die der Autor für sie bereithält, haben wir bereits skizziert: Mit Beginn der Schulpflicht muß sie hinein in die Klopferwelt, wo sie regelmäßig verspottet und "verklopft" wird, aber auch süße Seiten kennenlernt, die sie auf eigene Wege locken, die sie zur Gegenwehr schreiten und schließlich triumphieren lassen. Oft gleitet die Handlung dabei wie über Zuckerguß dahin, und auch der Stil ist nicht frei von Trivialität: "Ihr wurden die aufbrechenden Gefühle zu viel." - "Sie ärgerte sich. Der Ärger wallte zu Wut auf." Die Schilderung von Emotionen ist Brauns' Sache nicht.
Aber solche Stellen sind selten, und über die märchenhafteren Elemente des Romans hilft Brauns als nüchterner Stilist und doch auch gnadenloser Schicksalswalter hinweg. So etwa, wenn er das Gruselhaus, in dem Adina aufwächst, als etwas völlig Alltägliches entwirft; sie ihre Peiniger um die nächste Verklopfung bittet, um wenigstens deren Zeitpunkt kontrollieren zu können; vor allem aber: wenn Adina völlig überraschend das Wichtigste verliert, was sie hat. Hier gelingt dem Autor ein Tiefschlag, dem der Leser lange nachspürt und der ihm Erleichterung verschafft: So starker Tobak kann kein Kinderbuch sein. Wir müssen selber lesen. Denn zum Liegenlassen ist dieses Buch zu schade.
KLAUS UNGERER
Axel Brauns: "Kraniche und Klopfer". Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 304 S., geb., 21,95 [Euro].