Im Gespräch: Reiner Stach : War Kafkas Leben kafkaesk?
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Ist das nicht bei jedem Menschen der Fall? Es gibt bestimmte Dinge, die man über einen anderen einfach nicht wissen kann. Kafka hat im Leben vermutlich Hunderttausende mündlicher Sätze hervorgebracht, und wie viele kennen wir davon? Vielleicht hundert. Das muss man sich in aller Bescheidenheit mal klarmachen. Alles, was ein Biograph tun kann, ist, bestimmte Muster aufdecken, intellektuelle zumal. Aber Kafka war im Alltag wahrscheinlich ganz anders, als man es sich auf den ersten Blick vorstellt. Wer nur die Tagebücher kennt, glaubt kaum, wie albern er sein konnte. Er hatte große Probleme, die psychische Balance zu halten, hatte oft Zwangsgedanken, Gewaltgedanken bis hin zu Zerstückelungsphantasien. Das alles durch bewusste Reflexion unter Kontrolle zu halten war anstrengend, und wenn sich die seltene Gelegenheit der Entspannung bot, ist er regelrecht regrediert. Wer so gefährdet ist wie er, lechzt nach jedem Moment, in dem andere die Fürsorge übernehmen.
Wissen Sie denn inzwischen, „wie es gewesen ist, Franz Kafka zu sein“?
Diese Formulierung, die ich in der Einführung zum ersten Band meiner Biographie verwendet habe, wird mir des Öfteren unter die Nase gehalten. Sie klingt nach Größenwahn, beschreibt aber lediglich das utopische Ideal des Biographen. Zeitweise ist Kafkas Leben so gut dokumentiert, dass dieses Erkenntnisideal in greifbare Nähe rückt, da lässt sich manchmal von Stunde zu Stunde verfolgen, was in ihm vorgeht, manchmal lässt sich gar vorhersehen, was als Nächstes passieren wird. Man kann Kafka in gewissen Augenblicken ganz nahe kommen, aber das bedeutet nicht, dass wir wirklich begreifen, wie jemand so etwas wie den „Landarzt“ erfinden konnte. Das bleibt rätselhaft.
War Kafkas Leben kafkaesk?
Ja, das würde ich schon sagen. In Kafkas Leben gibt es merkwürdige Zufälle, Wiederholungen und Vorwegnahmen, die fast so wirken, als ob ein Romanautor daran gedreht hätte.
Ist der Begriff des „Kafkaesken“ die Formel zum Werkverständnis oder eher ein Klischee?
Eigentlich kann ich mit dem Begriff gar nicht so viel anfangen. Meistens meinen die Leute damit etwas Absurdes und zugleich Unheimliches, meistens geht es um irgendwelche Machtbeziehungen: Wenn diejenigen, die das Zentrum der Macht besetzen, im Dunkeln bleiben, dann hat man das Gefühl, die Situation sei „kafkaesk“. Das ist vermutlich auch die entscheidende Verbindungslinie zwischen Kafka und uns. In seinen Romanen ist ja der Gipfel der Pyramide unsichtbar, und in der heutigen Gesellschaft weiß man - trotz der scheinbaren Transparenz - auch nicht so genau, wie es in den obersten Instanzen zugeht. Wir wissen nicht, wo das Machtzentrum liegt, wir wissen nicht einmal, ob es ein solches Zentrum überhaupt gibt. Wer entscheidet in letzter Instanz über die Weltmarktpreise von Öl und Lebensmitteln? Welche Personengruppe hat den größten Einfluss auf die Börsenkurse? Man wüsste gern, wie es dort oben zugeht, aber man lernt allenfalls die Zwischenhändler kennen. Das ist genau wie in Kafkas „Proceß“.
Wären Sie Kafka gern einmal begegnet?
Natürlich. Aber es wäre jetzt meinerseits regressiv, wenn ich einer solchen Phantasie allzu viel Raum geben würde. Ich habe immerhin einmal Kafkas Nichte getroffen, die inzwischen verstorbene Marianne Steiner. Sie sah aus wie Kafka, sie hatte noch den alten Prager Akzent, und da habe ich schon ein paar Minuten gebraucht, um mich wieder zu fassen.