Henry James: Überfahrt mit Dame. Eine Salonerzählung : Überdruck in den Dampfkesseln der Konversation
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Aufs Meer mit uns faden Binnenexistenzen! Henry James erzählt von einer „Überfahrt mit Dame“ und verwandelt die sauberen Planken des Schiffsdecks in schlüpfrige Bühnenbretter.
In Cambridge, Massachusetts, steht sein Grabstein und verkündet mit der Inschrift, dass er ein Bürger zweier Welten war, der die Erfahrung seiner Zeit „on both sides of the sea“ zu deuten wusste. Tatsächlich stehen sich Amerika und Alteuropa, die Neue und die Alte Welt, in seinen Werken gegenüber, vielfach fremdelnd oder irritiert, niemals aber gleichgültig und achselzuckend, sondern immer wechselseitig fasziniert, manchmal betört, zuweilen von der anderen Seite regelrecht in Bann geschlagen.
Die See, die beide geographisch trennt, verbindet sie daher zugleich und öffnet einen Raum für ständige, oft missverstandene Begegnungen. Daraus gewinnen die Geschichten aus der besseren Gesellschaft, denen er sich lebenslang mit meisterhafter Sprachkunst widmete, ihre ungeheure Reibungsenergie. Die beste Bühne aber, sie zu inszenieren, bilden Schiffspassagen, Ozeandampfer auf hoher See: „Die sauberen Planken des Decks verwandeln sich in Bühnenbretter eines amüsanten Schauspiels, des menschlichen Dramas der Reise, der Bewegung und Interaktion im grellen Licht der See“, wie es in „Überfahrt mit Dame“, seiner großartigen Schiffserzählung von 1888, heißt.
Transatlantische Passage
Gewiss war Henry James (1843 bis 1916) kein Autor abenteuerpraller Seefahrergeschichten, wie wir sie in existentieller Übersteigerung oder Brechung von Herman Melville oder Joseph Conrad kennen. Bei James bleibt das Matrosenleben ausgespart, Kajüten, Kohlenlager oder Kesselraum, wie alles andere unter Deck, sind jedem Blick, den er uns gönnt, entzogen - nicht einmal vorsätzlich verborgen, sondern stets vorausgesetzt auf eine stillschweigende Weise, die weitere Verständigung darüber unterbindet. Doch selbst wenn sich die Perspektive des Erzählens bei ihm immer strikt auf das Gesellschaftsdeck beschränkt und alle Anstandsregeln, die dort gelten, mit Geschick und Klugheit wahrt, wird doch das Ungeheuerliche, das darunter liegt, in jedem Moment spürbar. Wenn im Salon Konversation betrieben wird, steigt dort der Druck, ganz wie im Heizkessel, bedrohlich an; unter den sauberen Planken stampfen gewaltige Maschinen und treiben das Geschehen zu voller Fahrt voraus; alles Abenteuer liegt bei James in den Nuancen.
Davon können wir uns jetzt durch wunderbare deutsche Erstveröffentlichungen einiger Erzählungen aufs Neue überzeugen. „The Patagonia“ (wie „Überfahrt mit Dame“ im Original nach dem Schiffsnamen heißt) erzählt von einer transatlantischen Passage, die von Boston nach Liverpool führt und eine scheinbar zufällig zusammengewürfelte Reisegesellschaft in eine menschliche Katastrophe verstrickt, deren Ausgang alle umso mehr verstört, als sie den Punkt, da ein geselliges Spiel in tödlichen Ernst umschlägt, verpasst haben. Sechs Tage dauert diese Überfahrt, bei heißem Sommerwetter und ruhiger See. An Bord jedoch, so heißt es, zählt jeder Tag so viel wie zehn an Land, und offensichtlich wiegt in solcher Abgeschiedenheit auf See, wo einen nicht einmal der Briefträger erreicht, auch jedes Wort zehnmal so schwer. So kommt es, dass die Amerikanerin, die in Liverpool von ihrem Verlobten in Empfang genommen werden und zur Hochzeit schreiten will, ihrer Worte nicht mehr sicher ist und sich auf derart schwerwiegende Gespräche mit einem jungen Mann einlässt, dass sie vor der Ankunft schließlich von Deck und Bord verschwunden ist.