Hédi Kaddour: Waltenberg : Linzer Torte des Jahrhunderts
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Die perfekte Mischung aus dem Zauberberg und den drei Musketieren: Hédi Kaddours fulminanter Epochenroman über Europa liegt endlich auf Deutsch vor.
Darauf wäre man als Geschmacksnote für das vergangene Jahrhundert mit seinen Schützengräben, den Lagern Hitlers und Stalins, dem Eisernen Vorhang, dem Kalten, dem Vietnam- und dem beginnenden Afghanistankrieg von selbst nicht gekommen. Linzer Torte. "Riechen Sie diesen Duft nach heißen Äpfeln, dieses leicht Säuerliche, unglaublich Köstliche, das da von fern herüberweht?" - fragt ein Herr aus Ost-Berlin seinen jungen Gast aus Paris in der Dorfkonditorei des Schweizer Kurorts Waltenberg vor dem Prachthintergrund des Bündner Alpenmassivs. Der Ost-Berliner, Michael Lilstein mit Namen und Meisterspion von Beruf, hält es ohne diesen Duft nicht länger als ein paar Monate aus. Dann treibt es ihn wieder hinauf ins Graubündische. So an diesem Dezembernachmittag 1956, wo er beim Tee den kommunistischen Franzosen für eine Geheimmission zu gewinnen sucht. "Ein Pakt? Nein, kein Pakt", versichert er: Es sei nur ein Angebot, das erlaube, nach der Sauerei jenes Jahres in Budapest aus der Partei auszutreten und irgendwie doch seiner revolutionären Seele die Treue zu halten.
Waltenberg ist in diesem Roman Kulisse, geheimer Begegnungsort, Schaltzentrale, Seelenlandschaft eines Jahrhundertgefühls, das fast noch das unsere ist. Am Vormittag jenes Dezembertags hatte Lilstein im großen Saal des Hotels "Waldhaus" auch noch ein anderes Treffen. Er wollte den Erfolgsschriftsteller Hans Kappler davon abbringen, von West- nach Ostdeutschland überzusiedeln. Die beiden kennen einander seit langem, sind sich auch durch die bewegte Beziehung zur amerikanischen Sängerin Lena Hotspur verbunden und waren schon 1929 zusammen in Waltenberg, beim berühmten Treffen, wo unter Einfluss des Freiburger Seins-Philosophen Merken die europäische Intelligenzija sich von der Aufklärung verabschieden und die Welt wieder poetisch bewohnen wollte.
Zwischen Weltentwürfen
Ein Schlüsselroman ist dieses magistral komponierte Buch des 1945 in Tunesien geborenen und in Frankreich aufgewachsenen Hédi Kaddour dennoch nicht. Dafür sind die Figuren und Ereignisse bald zu direkt, bald zu vage verschlüsselt. Es geht bei diesem Romandebüt des Dichters und Literaturprofessors Kaddour eher um das Phantombild eines Europa, das in der Spannung zwischen ideologischen Weltentwürfen und deren missglückten Ausführungen die Szene beherrschte. Waltenberg ist dafür ein allegorischer Brennspiegel in alpiner Höhenlage, in dem die sich verlaufenden Geschichtsstränge sich immer neu bündeln, am liebsten von den Nebenereignissen her. Weltgeschichte wird hier randseitig erzählt.
Wie ist beim Sturmangriff 1914, der auch dem Romanhelden Hans Kappler beinah fatal wurde, der französische Romanautor Alain-Fournier umgekommen, im Kampfeinsatz oder von den Deutschen füsiliert, wie Ludwig Harig bei Kaddour in einem Blatt namens "Frankfurter Allgemeine Zeitung" behauptet? Was genau steht hinter dem Streit, bei dem in einem französischen Botschaftsgarten in Singapur 1965 der Reporter Max Goffard - eine weitere Hauptfigur dieses Romans - beim Krocketspiel den Kulturminister André Malraux provoziert, dessen Romanwelt er eigentlich entstammt? Die realen und fiktiven Handlungsstränge sind bei Kaddour so virtuos verknüpft, dass man beim Lesen nie recht weiß, ob einen das Erfundene oder das Recherchierte mehr in Atem hält. Ihm habe eine Kombination aus "Zauberberg" und "Die drei Musketiere" vorgeschwebt, erklärte der Autor Kaddour, als sein Monumentalroman vor vier Jahren auf den französischen Büchertischen triumphierte. Die Sache ist weitgehend geglückt, mit einem Erzähldrall ins Schräge, der manchmal an Georges Perec erinnert.