Haruki Murakami: 1Q84 : Die Sünden der Väter
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Haruki Murakami: „1Q84”, Dumont Bild:
„1Q84“ wurde im vergangenen Jahr in Murakamis japanischer Heimat veröffentlicht und erscheint derzeit in Übersetzungen rund um die Welt.
Das „Wohltemperierte Klavier“, Johann Sebastian Bachs Sammlung für die „lehrbegierige musicalische Jugend“ umfasst zwei Teile mit jeweils 24 Kompositionen, die zwölf Paare aus Etüden und Fugen aufeinanderfolgen lassen, die sämtliche Tonarten umfassen. „1Q84“, Haruki Murakamis neuer Roman für das lesebegierige literarische Publikum, umfasst zwei Teile mit jeweils 24 Kapiteln, die zwölfmal abwechselnd das Figurenpaar Aomame und Tengo auftreten lassen und dabei sämtliche Register des Erzählens ziehen.
„1Q84“ wurde im vergangenen Jahr in Murakamis japanischer Heimat veröffentlicht (F.A.Z. vom 24. Juli 2009) und erscheint derzeit in Übersetzungen rund um die Welt. Dass das in der vergangenen Woche auch bereits auf Deutsch geschah, obwohl das Werk mehr als tausend Seiten umfasst, beweist zweierlei: die Popularität Murakamis und seine verhältnismäßig schlichte Sprache. Dieser Schriftsteller ist kein großer Stilist, dessen Tonfall eine Herausforderung für die Übersetzer wäre - deshalb meinte man auch vor einigen Jahren, seine Bücher einfach nach der englischen Übertragung ins Deutsche bringen zu können.
Das war natürlich naiv, denn wie in Platons Höhlengleichnis bringt jede neue Übersetzung den Leseeindruck weiter von der Wahrheit ab. Und riskiert den Verlust dessen, was Murakamis Schreiben ausmacht und denn doch ein Stil ist: Er pflegt selbst bei denjenigen seiner Bücher, die man der Phantastik zurechnen kann, eine ebenso lapidar-kühle Sprache wie in seinem - nun qualitativ gesprochen - phantastischen Sachbuch „Undergrundkrieg“ (in Deutschland 2002 erschienen), das sich dem Giftgasanschlag der Aun-Sekte auf die U-Bahn von Tokio im Jahr 1995 widmet.
Genauigkeit als Prinzip japanischer Ästhetik
Von „Undergrundkrieg“ zu „1Q84“ verläuft eine, nun ja, untergründige Linie - thematisch wie formal. Fanatismus steht als Auslöser hinter dem im Sachbuch vorgestellten realen Tokioter Geschehen von 1995 wie dem des fiktiven Tokioter Jahrs 1984 im Roman. Und den Erzähler Murakami interessiert dasselbe wie den Chronisten: der Zugriff auf eine Welt, die sich als jeweils von den in ihr Lebenden individuell wahrgenommene gar nicht auf einen Begriff bringen lassen dürfte. Diesem Problem wird nur ein Verfahren gerecht: die genaue Beschreibung. Und Genauigkeit - das ist ein Prinzip der traditionellen japanischen Ästhetik - wird begünstigt durch Sparsamkeit der Mittel.
Das mag paradox klingen bei einem mehr als tausendseitigen Roman, von dem zudem im kommenden Herbst noch ein dritter Teil erwartet wird, der in Japan bereits erschienen ist - in einer Startauflage von einer halben Million und nur ein halbes Jahr nach den ersten beiden Bänden, die in Deutschland nun zusammen als ein Buch herauskommen.
Können die selbstsichere Fitnesstrainerin und Auftragskillerin Aomame und der zögerliche Schriftsteller Tengo in den ersten beiden Teilen des Werks zusammen nicht kommen, so steht im dritten, so viel sei schon verraten, ihre erste Begegnung seit zwei Jahrzehnten an. Denn die beiden hatten sich als Kinder 1964 im zarten Alter von zehn Jahren auf der Schule kennengelernt, als ihre Rollen noch vertauscht waren: Aomame war als Tochter zweier Zeugen Jehovas eine in sich verschlossene hilflose Außenseiterin, während Tengo ein erfolgreicher Sportler zu werden versprach, dessen Stimme unter Gleichalten Gehör fand.