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Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. : Die Wildnis schweigt, die Mutter ruft

Reminiszenzen aus dem Berliner Westen: Hans-Ulrich Treichel Bild: juergen-bauer.com

Söhnchen, höre die Signale: Hans-Ulrichs Treichels neuer Roman „Frühe Störung“ schildert den Lebensstillstand eines Muttersöhnchens. Und ist selbst ein Sturm im Wasserglas.

          3 Min.

          Schlecht geschrieben ist dieser Roman nicht: kurze, knappe, meist also parataktische Sätze, die vorwärtsdrängen und gerne auch mal auf die Pointe zielen. Gleich auf der ersten Seite etwa, auf der ein lange namenlos bleibender und, wie wir ebenfalls erst später erfahren, nicht mehr ganz junger, aber auch noch längst nicht alter Mann auf der Psychoanalyse-Couch liegt und mit dem Therapeuten über seine Befürchtung spricht, als Kassenpatient bei beiden, der Kasse wie dem Arzt, in Ungnade zu fallen und aus der Praxis geworfen zu werden. Der Analytiker beruhigt ihn sofort. „Kassenpatienten“, wird er zitiert, „schmeiße man nicht raus. Kassenpatienten nehme man allenfalls gar nicht erst an.“

          Jochen Hieber
          Freier Autor im Feuilleton.

          Kurz und knapp ist auch der Roman selbst: schlanke hundertneunzig Seiten, schön der Reihe nach erzählt. Nach der Therapiestunde macht der Held und Ich-Erzähler erst einen kleinen Spaziergang und landet dann in einem Café am Savignyplatz im besten Berliner Westen, wo er in Ruhe seinen Gedanken und Erinnerungen nachhängen kann. Auch die allfälligen Rückblenden in Kindheit und Jugend, die dabei erzähltechnisch zu bewältigen sind, wirken wie selbstverständlich und lesen sich anstrengungslos.

          Nach dem Tod ruft die Mutter umso lauter

          Woran also liegt es, dass dieses kurze, knappe und stilistisch prägnante Buch schon bald nach der durchaus gelungenen Exposition fast unendlich lang und unheimlich zäh erscheint? Zunächst, weil es bereits Erzähltes immer wieder aufwärmt und ohne große Variation ein ums andere Mal repetiert. Sodann, weil dieser Ich-Erzähler so fürchterlich mittelmäßig ist und aus seinem Mittelmaß auch nichts anderes zu machen versteht. Und schließlich, weil die Handlung zwar brav voranschreitet, aber keinerlei Entwicklung kennt: Was wir nach zehn, spätestens zwanzig Seiten wissen, wissen wir auch nach hundertneunzig, mehr aber nicht.

          Nach sechsundzwanzig Seiten erfahren wir immerhin, dass unser Enddreißiger bis Mittvierziger Franz heißt. Einen Familiennamen hat und braucht er nicht. Dafür hat er eine Mutter, von der er partout nicht loskommt, obwohl er sie fortwährend flieht. Seine Abhängigkeit perpetuiert er auch nach jahrelanger, sogar einigermaßen erfolgreich beendeter Therapie – explizit wohlwollend und voller Zuversicht wird er vom Analytiker verabschiedet – so dauerhaft wie heftig, dass er sie uns gleich noch einmal erzählen muss. Haarklein. „Die einen“, sagt er, „hören den Ruf der Wildnis, und ich höre den Ruf der Mutter.“ Nach deren Tod desto mehr und desto lauter.

          Acht Mal Fischrestaurant ist langweilig

          Diesen Franz einen Reiseschriftsteller zu nennen wäre völlig übertrieben. Er selbst, keineswegs zu Größenwahn neigend, sieht sich auch lediglich als Gebrauchsschreiber von Reiseführern. Aber weil auch dieser Markt umkämpft ist und voller Konkurrenten steckt, hat er es bisher nur zu einem dieser „120-Seiten-Hefte in schmalem Hochformat“ gebracht und zwar über die Halbinsel „Fischland-Darß-Zingst“ in Mecklenburg-Vorpommern, einem zweifellos schönen Fleckchen Erde (mit Meer), das aber in der von Weltmetropolen wie New York, Rom, London oder Paris angeführten Reiseführer-Hierarchie ganz unten angesiedelt ist.

          Es ist fürs Erste von einer fast liebenswerten Skurrilität, wie Franz seinen Schreibkampf mit der Idylle schildert, verblichene DDR-Broschüren zitiert oder seine Skrupel darüber preisgibt, ob er in der bald fälligen Neuauflage vor der Zeckengefahr im Fischland warnen soll oder nicht. Aber wenn er uns zum fünften bis achten Mal in ein Fischrestaurant mitnimmt und aufs Neue von fetten Bratkartoffeln erzählt, geht es uns beim Lesen wie ihm mit der „Ur- und Frühgeschichte“ seines eroberten Berichtsgebiets: „Gerade dieses Thema“, weiß er, sei „enorm langweilig“.

          Ähnliches gilt für die Ursituation des ewigen Muttersöhnchen-Daseins: Der kleine Franz wurde täglich zum Mittagsschlaf gezwungen – und zwar stets gemeinsam mit Mama, die erst die Vorhänge zuzog und dann im dünnen Nachthemd „immer näher an mich heranrückte und mich mit ihrem Bauch oder ihren Schenkeln berührte“. Nein, kein Missbrauch, Mutti schläft ja, breitet sich dabei aber unweigerlich zum Sohnemann hin aus. Einmal geschildert: gut, mehrfach wiederholt: siehe Fischrestaurant.

          Bekanntes Werkzeug, immerähnliches Material

          Nun ist der 1952 geborene Hans-Ulrich Treichel ja beileibe kein Unbekannter unserer Literatur. Im Gegenteil: Der in den siebziger Jahren zunächst mit kurzen, pointierten und ungemein lakonischen Gedichten hervorgetretene Autor gehört spätestens seit der Erzählung „Der Verlorene“ (1998), einer Flucht- und Wirtschaftswundergeschichte, und dem Roman „Menschenflug“ (2005), in dem das „Findelkind Nr.2307“ in origineller Metamorphose wiederkehrt, zu den renommierten Erzählern seiner Generation. Seit anderthalb Jahrzehnten leitet er im Wechsel mit dem Österreicher Josef Haslinger auch das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, zu DDR-Zeiten die Kaderschmiede für Literatur-Novizen, inzwischen längst die erste Werkstatt-Adresse aller Jungautoren.

          Warum also ist „Frühe Störung“ derart misslungen, warum wirkt der neue Roman so brav und bieder? Es scheint, als seien Treichel die Themen ausgegangen, weshalb er den aktuellen Stoff aufs Neue mit den für ihn längst typischen, inzwischen aber ermatteten Sujets ausstaffiert – mit Geschichten aus der Psychotherapie, die seit der Prosa „Von Leib und Seele“ (1992) ebenso zum Repertoire zählen wie die Fluchtreisen seiner Hauptfiguren in südliche Gefilde oder an ferne Gestade – während der ersten Krebsoperation der Mutter setzt sich Franz nach Rom ab, vor der zweiten dann nach Indien.

          Und natürlich gibt es auch das Motiv der den Sohn vereinnahmenden, ihn verschlingenden Mutter längst, im „Menschenflug“ gar als zentrales Geschehen. Selbst goldenes Schreibhandwerk, über das Treichel gewiss verfügt, wird matt und grau, wenn es sich stets mit demselben Werkzeug am immerähnlichen Material zu schaffen macht.

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