Buch von Hans-Jürgen Heinrichs : Der Nabel bin ich
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Kommt in der Autobiographie vor: die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann Bild: Picture-Alliance
Wohin geht’s wirklich? Hans-Jürgen Heinrichs legt mit „Der kürzeste Weg führt um die Welt“ eine enervierend-faszinierende Autobiographie vor.
An intellektuellem Snobismus ist dieses Buch kaum zu übertreffen. Als junger Mann, der die deutsche Enge überwinden will, trifft der Erzähler in Paris – im Café de Flore – zwei „Berühmtheiten“. Sie hatten schon vor ihm und „stets auf Einladung politisch und kulturell Mächtiger die ganze Welt bereist, während ich mir nur Ausschnitte der Fremde auf eigene Faust zu erobern versuchte hatte“. Sie waren nicht bereit, „die eherne Größe ihrer Namen“ gegen seine „Haltung ungeschützter Neugierde“ einzutauschen. Und deshalb werden diese verschwiegen.
Es handelte sich – denn doch leicht entschlüsselbar – um Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Ihm erklärte Heinrichs zum Abschied, er habe „als Schüler dessen Buch ‚La Nausée‘ in weinrotes Leder einbinden lassen“. Als selbsternannter „Narr“ kommt Sartre später dann doch noch namentlich vor.
Hans-Jürgen Heinrichs wurde 1945 geboren. Er ist Ethnologe und Schriftsteller, 1980 begründete er in Frankfurt den Qumran Verlag, der ein paar Jahre lang zu den lebendigen Zentren des deutschen Geisteslebens gehörte. Als Verleger und Essayist beschäftigte sich Heinrichs mit Strukturalismus, Ethnologie, Psychoanalyse.
Flucht aus Danzig
„Von den ersten Zeilen an führt er den Leser auf die Wege geheimnisvoller Freundschaften und hinaus in die weite Welt eines manisch Reisenden“, schreibt Durs Grünbein in seinem hymnischen Vorwort: „Ein Mensch verlässt, wie wir alle von der Schule gelangweilt, das Klassenzimmer durch das Fenster – und findet sich eines Tages in Bagdad wieder und in Ostafrika, in den Bergen der Nuba, an der Seite von Leni Riefenstahl.“
Am Kriegsende war die Mutter „mit einem Wagen und zwei Pferden“ aus Danzig geflohen. Mit dem Moped fuhr Heinrichs nach Paris. Die Enttäuschung über das verpatzte Rendezvous mit Sartre und Beauvoir war umso größer, als unmittelbar zuvor die spontane Begegnung mit einem genauso mythischen Intellektuellen-Paar sehr viel erfreulicher verlaufen war: Simone Signoret und Yves Montand baten Heinrichs, der im Bistro Texte von Jacques Prévert las, an ihren Tisch. „Das Gespräch entfaltete dann seine Spannung gerade aus dem Gefälle zwischen uns.“ Als einer, „der im Restaurant schrieb“, glaubt Hans-Jürgen Heinrichs, sei er „ein augenblickshafter Teil ihrer Wirklichkeit geworden“.
Die Neugierde hält sich in Grenzen
Er folgt einer Bekannten zu Georg Stefan Troller, dem legendären Paris-Chronisten mehrerer Jahrzehnte. Ihm sollte er von seinem Trip auf den Spuren Ezra Pounds nach Rapallo berichten – per Autostopp: Ein Ferrari hatte neben ihm angehalten, aber der Fahrer wollte keinen Tramper mitnehmen, sondern pinkeln. Erweichen ließ er sich dann trotzdem. Das alles ist manchmal lustig, auf die Dauer aber ziemlich langweilig. Heinrichs entdeckt eine Gemeinschaft, die ihre Tradition „seelisch, religiös und sozial“ hinter sich gelassen hat. Ein paar Zeilen weiter hat sich Europa nach seiner Rückkehr „politisch, sozial und kulturell grundlegend verändert“. Vom Autor kann man das nicht sagen. Von der vielbeschworenen „Lust“ am Reisen und einer Horizonterweiterung ist im Text wenig zu spüren.
Das Interesse an den Gesprächspartnern und die „ungeschützte Neugierde“ halten sich in Grenzen: „Phantasievoll schickt der Historiker Jacques Le Goff bei unserem Treffen wie in seinem Buch jemanden auf die Reise vom Westen in den Osten Europas.“ Das Thema, um das es gehen soll, ist der Gegenstand dieses Buchs: „Wie aber entsteht dennoch das Gefühl, ,zu Hause‘ zu sein?“ Aber Heinrichs beschreibt nur die Umstände des Gesprächs und Le Goffs Büro: „Mich empfing ein freundlicher, ja herzlicher Mensch“, und es fiel Heinrichs „nicht schwer, mit ihm über das Leben und die jederzeit möglichen Unglücksfälle zu reden“ – Le Goff ging vorübergehend an Krücken.