Nino Haratischwilis neuer Roman : Wenn die Zeit seitwärts geht
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Das Überleben improvisieren: Altes Haus im Stadtteil Avlabari in Tblissi mit Gemüseladen. Bild: picture-alliance
Was macht ein grausamer Bürgerkrieg mit denen, die ihn überleben? In Nino Haratischwilis Roman „Das mangelnde Licht“ versuchen vier junge Frauen, im umkämpften postsowjetischen Georgien den Weg in eine zivile Gesellschaft zu finden.
Als Keto an diesem Wintertag Anfang 1992 nach Hause kommt, sitzt im Wohnzimmer eine Fremde. Ein Mädchen, offenbar eine Nachhilfeschülerin ihrer Großmütter, eingehüllt in einen Ski-Anzug. Sie sitzt auf der höchsten Stufe einer Leiter, weil sich die Restwärme im Raum in den oberen Luftschichten konzentriert, und liest versunken in einem zerfledderten Buch. Für Keto, die Erzählerin in Nino Haratischwilis neuem Roman „Das mangelnde Licht“, wird daraus ein enorm aufgeladenes Bild: Das Mädchen sitzt da „wie eine anbetungswürdige Ikone“, die Leiter wirkt durch sie, „als wäre sie ein goldener Thron in einem verzauberten Reich“, und die Verse im Buch – Hölderlin, stellt Keto sich vor – stiften im Leben des Mädchens „womöglich den einzigen Sinn, die einzige Schönheit“. Später, sagt Keto, hätte sie oft bedauert, den Moment mit Stift und Zeichenblock nicht wenigstens skizziert zu haben. „Und hätte ich es damals getan, dann hätte ich mir ein gewisses Pathos erlaubt und das Bild mit ‚Georgische Madonna ohne Kind‘ betitelt.“
Eine Episode aus dem Bürgerkrieg, aus einer von gleich mehreren Krisen, die sich im Georgien der Neunzigerjahre überlagerten und gegenseitig hervorbrachten: die blutige Ablösung des 1921 der Sowjetunion einverleibten Staates von den Okkupanten (die sich dann etwa zwanzig Prozent des Landes zurückholten und bis heute besetzt halten), die Herrschaft und Vertreibung des ersten Präsidenten Swiad Gamsachurdia, die aufkommende Bandenkriminalität paramilitärischer Gruppen, schließlich der Krieg mit der abtrünnigen Provinz Abchasien und deren russischen Helfern, der in eine katastrophale Niederlage Georgiens mündete.
Ein lesendes Mädchen
Vier Freundinnen, die in diesen Jahren in der georgischen Hauptstadt aufwachsen, stehen im Mittelpunkt des Romans. Gleich die erste Szene, angesiedelt 1987 in Tiflis, zeigt Charakteristika der jeweiligen Mädchen ebenso wie die Mechanismen ihrer ungewöhnlich soliden Verbundenheit: Die Vierzehnjährigen brechen, angeführt von der furchtlosen Dina, in den botanischen Garten der Stadt ein, die romantische Nene und die kluge Ira folgen ebenso wie Keto, die sich unmittelbar an Dinas Fersen geheftet hatte, der Freundin bis zu einem Bassin. Auf einem Vorsprung nehmen sich Dina und Keto bei den Händen. Dann springen sie hinunter ins Wasser.
So erzählt es Keto, wortreich, anschaulich, bildgewaltig, mit Sätzen, die das unmittelbare Erleben gern für eingeschobene distanzierte Betrachtungen verlassen oder sich mitunter gar wie Sentenzen anhören. Es ist eine Sprache, die ersichtlich bemüht ist, einer dauernden Anspannung Herr zu werden und eine verwirrende, oft verstörende Welt einzufangen, indem sie sich ihr kühl beobachtend nähert und dabei auch auf tradierte Muster und Figuren zurückgreift, sodass ein lesendes Mädchen aus der Rückschau eben zur Bedeutung stiftenden Ikone avanciert.
Die Zeit ist eine Fläche
Den Grund dafür macht der Rahmen des Romans rasch klar: Keto besucht im Sommer 2019, zwanzig Jahre nach Dinas Tod, in Brüssel eine Ausstellung mit den berühmt gewordenen Fotoarbeiten der Freundin. Sie zeigen die Unruhen jener Jahre, auch die Kriegshandlungen in Abchasien, wohin Dina ihrem journalistischen Mentor als Pressefotografin folgte, während der Mentor selbst dort ums Leben kam. Und sie zeigen immer wieder die vier Freundinnen, zusammen oder allein, auch in Extremsituationen, wobei Dina sich selbst nicht ausspart.
Die Folge ist, dass Keto auf der Vernissage, zu der auch Nene und Ira gekommen sind, immer wieder von Wildfremden angesprochen wird, die ihr Gesicht erkennen und sie aufgrund der eindrucksvollen Fotos zu kennen glauben. Zugleich wird jedes der Fotos für sie selbst zum Anlass, sich zu erinnern – an die Entstehungszeit allgemein, aber auch an den speziellen Moment, in dem das jeweilige Bild aufgenommen wurde. Daraus erwächst der Roman, der eine grobe chronologische Ordnung besitzt, die zugleich aber durch ständige Vorausdeutungen in Ketos Erzählung durchbrochen wird: Dass Dina sich kurz vor der Jahrtausendwende umbringen wird, wird bereits im ersten Teil des Romans erwähnt, und auch den schlimmen Ausgang, den die meisten Liebesgeschichten und viele der Lebensläufe nehmen werden, können wir in vielen Fällen durch die Andeutungen der Erzählerin vorauswissen. Einige werden ermordet, andere sterben den Drogentod, einer verschwindet, einer beendet seine Tage im Rollstuhl, eine flieht nach einer entsetzlichen Erfahrung in den Wahnsinn. Und einer, der seinen Aufstieg in der Mafiahierarchie ohne sichtbaren Schaden hinter sich gebracht hat, stolziert viele Jahre später mit den Insignien des Erfolgsgangsters durch Tiflis.