Gabriel García Márquez : Woran man sich erinnert und wie
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Bild: Kiepenheuer & Witsch
Seit diesem Dienstag im Buchhandel: „Leben, um davon zu erzählen", der erste Teil der auf drei Bände angelegten Memoiren von Gabriel García Márquez.
An einem heißen Februartag im Jahr 1950 war Luisa Santiaga Márquez Iguarán in die karibische Küstenstadt Baranquilla gefahren auf der Suche nach ihrem Sohn Gabriel. Der hatte gerade sein Jurastudium abgebrochen und ernährte sich mehr schlecht als recht von Glossen, kleinen Meldungen und gelegentlichen Kommentaren in der Tageszeitung "El Heraldo". Luisa Santiaga wußte nicht, wo ihr Sohn zu finden sei, und erhielt auf ihre Fragen die Auskunft, wahrscheinlich in der Buchhandlung "Mundo" oder in einem der Cafés in der Nähe, wo sich junge Männer träfen, die behaupteten, Schriftsteller zu sein. "Aber seien Sie vorsichtig, die sind ganz schön verrückt", sagte ihr eine wohlmeinende Bürgerin aus Baranquilla.
Mit dem knappen Satz "Ich bin deine Mutter" stellt sie sich an Gabriel García Márquez' Tisch. Sie hat eine Weile gebraucht, um den zweiundzwanzigjährigen Sohn, der so lange nicht mehr in seinem Heimatdorf erschienen war, zu erkennen. Eigentlich bist du ja angezogen wie ein Bettler, sagt die Mutter später zu ihm, als sie beide auf einem verrotteten Schiff über den Río Magdalena und durch die Sumpflandschaft der Ciénaga in den später als Macondo so berühmt gewordenen Geburtsort des Schriftstellers, Aracataca, reisen. Auf dem Schiff treffen sie noch einen entfernten Verwandten. Er versucht, der Mutter die Sorgen um die berufliche Zukunft des Sohnes zu nehmen: "Ein guter Schriftsteller kann viel Geld verdienen, vor allem, wenn er sich mit der Regierung gut versteht."
Mit dem Wiedersehen seiner Mutter und der gemeinsamen Reise beginnt das neue Buch des Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez, "Leben, um davon zu erzählen“. Diesem ersten Teil seiner auf drei Bände angelegten Memoiren stellt García Márquez das Motto voran: "Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert - um davon zu erzählen." Er erinnert sich - bewußt oder unbewußt - an viele Menschen und viele Erlebnisse nicht, während ihm Begegnungen und Ereignisse, die Anlaß und Anregungen für seine Romane und Erzählungen wurden, noch ganz intensiv präsent sind. So findet der Leser in den Memoiren viele Personen wieder, die ihm als Romanfiguren schon vertraut sind.
Luisa Santiaga Márquez ist zum Vorbild zahlreicher Personen im literarischen Werk ihres Sohnes geworden. Sie ist im vergangenen Juni im Alter von 97 Jahren gestorben und hat das Erscheinen dieses Erinnerungsbandes, in dem sie eine so wichtige Rolle spielt, nicht mehr erleben können. Die Publikation von "Leben, um davon zu erzählen" wurde Mitte Oktober zum literarischen Jahresereignis in der gesamten spanischsprachigen Welt. Kurze Auszüge des Buches waren als Vorabdruck in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, andere wurden bis in den letzten Tagen vor der Drucklegung noch geändert und gekürzt. Freunde und Verleger des Schriftstellers hielten die Welt über den Schaffensprozeß auf dem laufenden. Als García Márquez an Krebs erkrankte, fürchtete man schon, er werde seine Erinnerungen nicht mehr zu Ende schreiben können. Die guten Nachrichten über seine Heilung ließen seine Leser wieder hoffen. Vor einiger Zeit sagte García Márquez, er müsse immer schreiben, jeden Tag. Wenn er einmal nicht schreiben könne, dann falle es ihm sehr schwer, wieder anzufangen - so wie bei seinen ersten Schreibversuchen. Einige Monate lang habe er auch gegen den Tod angeschrieben.
Seit 1994 hat Gabriel García Márquez kein literarisches Buch mehr veröffentlicht - "Nachricht von einer Entführung" (1997) war eine große journalistische Reportage. "Leben, um davon zu erzählen" jedoch ist ein eminent literarisches Buch: in der Struktur einfach, doch von außergewöhnlicher Präzision in der Wortwahl. Kaum ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller benennt die Dinge so genau wie García Márquez. So manches heute kaum noch vernommene Wort der spanischen Sprache erreicht erst in dem Werk des Kolumbianers wieder seine bildhafte Ausdruckskraft, läßt die verschiedenen Bedeutungsinhalte sichtbar werden und stellt neue oder nicht mehr bekannte sprachliche Zusammenhänge auf. Bei jedem Satz, auch in dem neuen Buch, ist der Leser sofort überzeugt, daß kein einziges Wort verändert oder ausgetauscht werden darf. Die Metaphern überraschen in ihrer Originalität, wirken aber nie zufällig. García Márquez braucht weder Neologismen noch pittoreske oder regionale Ausdrücke und Wendungen - trotz der klaren Begrenzung des Schauplatzes auf das karibische Kolumbien. Obwohl der kolumbianische Schriftsteller seine Texte häufig überarbeitet und umschreibt, hat man den Eindruck, daß sie ihm spontan aus der Feder geflossen sind. Das ganze Buch wirkt wie aus einem Guß, als hätte es gar nicht anders geschrieben sein können.